6. bis 10. Juli 2017, Saint-André-de-Rosans, Gästezimmer
Reisetag. Diese Passage war die aufregendste (es sei mir erlaubt, diese Petitesse als aufregend zu bezeichnen). Wenn man eine Departement-Grenze überschreitet, wird es kompliziert, vor allem was die öffentlichen Verkehrsmittel betrifft. Die sonst sehr kompetenten Mitarbeiter im Touristenbüro taten sich schwer darin, Abfahrtszeiten und Busse ausfindig zu machen, die über die Grenze und im Nachbar-Departement fahren. Schließlich bekam ich doch den allerletzten Bus vor den Großen Ferien Richtung Osten bis kurz vor der Grenze. Es war ein Minibus für sieben Personen. Wir waren zu viert, von denen der Fahrer drei persönlich kannte. Der Ausblick war atemberaubend. Es ging auf kurviger Route in die Berge hinein, durch Schluchten hindurch, türkisblaue Bergflüsse, Olivenhaine, Wälder, Lavendelfelder. In Rémuzat musste es per Anhalter weitergehen. Und es ging. Nach zwei Minuten Wartezeit hielt eine deutsche Familie aus Oldenburg, mit einer vier- oder fünfjährigen Tochter. Sie nahmen mich mit, brachten mich gewissermaßen über die Grenze. Sie machten sogar einen Umweg, um mich direkt in das Dörfchen Saint-André-de-Rosans zu bringen. Ich lief dann noch zehn Minuten, umgeben von Bergen, Weizenfeldern, Pinien und Kühen eine kleine verlassene Landstraße bis zur Pension. Ziemlich abgelegen. JWD. Herrlich.
Pension und Betreiber. Christine und Gilles hatten sich dort ihr Häuschen von anno 1820 renoviert und ausgebaut. Das Gästehaus, das Gilles gerade baute, und eine Jurte werden Gäste beherbergen. So kam ich in den Genuss, im großen Haus zu residieren, mit Blick auf bewaldete Berge, Felder, entfernte Höfe. Steinhaus, helles Holz, Holzdielen. Die Innenausstattung mit Liebe zum Detail gestaltet: Verzierungen aus Stein, farbigen Kacheln, Mosaike, Türen mit Gräsereinfassungen, allerlei Accessoires aus der Natur. Gilles legte auf dem immensen Grundstück Permakultur-Beete an, die Wasser wie ein Schwamm speichern und darum sehr geeignet für die trockene Gegend sind. Pflanzen filtern das Brauchwasser komplett in einer Bio-Kläranlage.
Beim Frühstück erzählten beide von ihrem Haus, dem Garten, wie sie sich kennenlernten. Sie stammen aus dem Savoie (bei der italienischen Grenze). Gilles stammt aus Lyon, lebte dort 35 Jahre, zog dann ins Savoie, lebte dort 20 Jahre, traf dort Christine, dann zogen beide in die Hohen Alpen. Sie hat zwei Kinder, er drei, und Enkelkinder gibt es auch. Er ist 14 Jahre älter als sie. Er war Friseur und sie seine Kundin. Beide glauben an die Energie des Universums. Christine vollzieht ein Ritual, wenn sie sich etwas wünscht, wenn sie nach einer bestimmten Sache auf der Suche ist. Sie schreibt konkrete Merkmale, sei es die ihres zukünftigen Partners oder die ihres zukünftigen Grundstückes, auf einen Zettel. Dann verbrennt sie das Papier und lässt den Wunsch ziehen. Ihrer Überzeugung nach geht er in Erfüllung, kommt das Vorgestellte von allein zu ihr, quasi vom Universum geschickt. Viele Gedanken können ins Bewusstsein kommen. Man solle sie vorbeiziehen lassen und sich nicht von seinem Ziel, seinem Weg abbringen lassen. Per se kein übler Rat. Mich erinnert das auch in gewissem Maße an das positive Denken. Dem ich wiederum ein wenig kritisch gegenüber stehen. Aber vielleicht sollte ich das mal mit dem Ritual versuchen? Christine bietet Meditationen für Gruppen an. Sie führte mich durch eine Intuitions-Meditation. Ich machte eine innere Reise zu einem Wunschort, und stellte mir zugleich meine Wunscharbeit vor. Ich mache Fortschritte.
Das Dorf und Land und Leute. Abends picknickte ich an einer Weggabelung gerade vorm Ortseingang von Saint André auf einer Steinbank, bei sich senkender Sonne, Olivenbrot, Gurke, Ziegenkäse, Tapinade aus schwarzen Oliven und Tomaten und Aprikosen. Saint-André-de-Rosans ist ein winziges mittelalterliches Dorf mit 60 Bewohnern und relativ vielen Gästezimmern. Der Ort war ehemals ein bedeutendes religiöses Zentrum. Die Ruinen der Prieuré (Priorei) aus dem 10. Jahrhundert stehen noch. Im Dorf begrüßt man sich fast immer, wenn man sich auf der Straße begegnet. Auch den Besuchern wünscht man Bonjour. Die Alten wie die Jungen spielen Petanque rund um den Dorfplatz, an dem sich Rathaus, Auberge, Brunnen und vier mächtige Platanen versammeln. Kinder, Jugendliche spielen und treffen sich hier. Ab und an fuhr die Bürgermeisterin und Landwirtin mit schwerem Landwirtschaftsfahrzeug vorbei, einen Ballen Stroh geladen.
Die regionale Tageszeitung Le dauphiné libéré für Hautes-Alpes, Alpes-de-Haute-Provence berichtet über den beginnenden Almauftrieb und das Leben der Schäfer, über ihre Wut auf die Wolf-Abschussquote, denn sie erlaubt nicht mehr, nun während des Almauf- und abtriebs sich und die Schafe vor Angriffen zu schützen, über die Eröffnung eines Hypermarchés (ein Super-Supermarkt) als Bedrohung für den lokalen Einzelhandel, die Krise der Oliven-Wirtschaft. Künstlervereinigungen, große und kleine Konzerte, Vorlesen in der Bibliothek und Kochkurse mit Kindern, einen Mordprozess, bei dem die Mörderin aus Eifersucht zu 30 Jahren verurteilt wird, einen Geschichtsverein, dessen Mitglieder die traditionelle Nussöl-Herstellung weitergeben. Und über die nationalen Ereignisse und Probleme wie über das ambitionierte Klimaschutzplan des Umweltministers oder die desaströse Unterbringung von Flüchtlingen in Paris, Calais und an der französisch-italienischen Grenze sowie eine weitere Verlängerung des Ausnahmezustandes aufgrund der Terrorattentate.
Der Ausflug nach Rosans, dem nächst größeren Dorf, startete rasant mit einem Mountainbike, stets bergab. Und endetet rasch, als die Kette beim ersten Versuch, in einen höheren Gang zu schalten, vom Zahnrad sprang. Unfähig, diese einfache Reparatur auszuführen, hieß es: schieben in praller Sonne bei 30 °C. Schuhe klebten an Teerstücken fest, die sich zu verflüssigen begannen. Gut durchgebraten erreichte ich nach anderthalb Stunden das Mittelalter-Örtchen, in dem außer dem Café am Platze alle Museen und Ausstellungen geschlossen hatten. Egal. Zu etwas anderem als hechelnd im Schatten Kaffee zu trinken, hätte die Kraft nicht gereicht. Doch, ein paar Fotos waren noch drin.
Naturlandschaft. Obwohl ich dem Meer eher zugeneigt bin, übte die Berglandschaft doch einen Zauber auf mich aus. Ich überraschte mich hier täglich aufs Neue. Sandsteinfelsen, unterschiedlichste kunterbunte Schmetterlinge, die weiße, einheimische Kuhrasse Charolais, Geier, Hirsche, Rehe, Dachse, die die Erdbeeren naschen, Siebenschläfer, die gerne die Hausdämmung anfressen und von der Katze des Hauses gejagt werden. Im Dorf und allerorts Stockrosen. In der Dämmerung rasen Hasen über die Wiesen. Es brummt und zirpt und sirrt und rauscht und raschelt und tropft und muht und bimmelt und plätschert und summt. Die Ruhe – die Geräusche der Natur waren für mich Ruhe – lädt zum Schreiben ein. So zog ich mich in mein Zimmer und das Schreiber-Kabuff zurück und veröffentlichte meinen ersten Blog-Eintrag, währenddessen Wein aus der Region genießend. Einmal blieb ich auf ein Weinchen länger in der Auberge. Der Rückweg im Dunkeln wurde vom Vollmond erleuchtet. Ich versuchte, keine Angst vor der tagsüber so freundlichen Natur aufkommen zu lassen. Beschwipst singend und vor mich her brabbelnd gelang das recht gut. Ein Pferd erschrak sich vor mir, bevor ich mich vor ihm erschrecken konnte.
Die Auberge. Die Leute der Auberge sind freundlich, warmherzig, unkompliziert. Die zarte, zurückhaltende und doch gesprächige Rosa gab mir einen Wein aus. Sie verbringt den Sommer nach dem Abschluss ihres Theaterstudiums und hilft ihrem Bruder Robin und dessen Frau Maelle im Restaurant. Der Chef ist auch der Koch, hat Dreads, ist sonst ziemlich alternativ. Ihr kleiner Sohn Émile tapste munter durch die Gegend. Die Geschwister (Mitte 30) sind zweisprachig aufgewachsen, die Mutter Engländerin, der Vater Italiener. Auch die Mutter lebte im Dorf. Vor Ort sprechen die drei natürlich französisch. An diesem romantischen Örtchen wurde übrigens der noch romantischere Film Le fils de l’épicier (Der fliegende Händler) gedreht. Das sagt eigentlich schon alles.










