Etappe 5 – Saint-André-de-Rosans

6. bis 10. Juli 2017, Saint-André-de-Rosans, Gästezimmer

Reisetag. Diese Passage war die aufregendste (es sei mir erlaubt, diese Petitesse als aufregend zu bezeichnen). Wenn man eine Departement-Grenze überschreitet, wird es kompliziert, vor allem was die öffentlichen Verkehrsmittel betrifft. Die sonst sehr kompetenten Mitarbeiter im Touristenbüro taten sich schwer darin, Abfahrtszeiten und Busse ausfindig zu machen, die über die Grenze und im Nachbar-Departement fahren. Schließlich bekam ich doch den allerletzten Bus vor den Großen Ferien Richtung Osten bis kurz vor der Grenze. Es war ein Minibus für sieben Personen. Wir waren zu viert, von denen der Fahrer drei persönlich kannte. Der Ausblick war atemberaubend. Es ging auf kurviger Route in die Berge hinein, durch Schluchten hindurch, türkisblaue Bergflüsse, Olivenhaine, Wälder, Lavendelfelder. In Rémuzat musste es per Anhalter weitergehen. Und es ging. Nach zwei Minuten Wartezeit hielt eine deutsche Familie aus Oldenburg, mit einer vier- oder fünfjährigen Tochter. Sie nahmen mich mit, brachten mich gewissermaßen über die Grenze. Sie machten sogar einen Umweg, um mich direkt in das Dörfchen Saint-André-de-Rosans zu bringen. Ich lief dann noch zehn Minuten, umgeben von Bergen, Weizenfeldern, Pinien und Kühen eine kleine verlassene Landstraße bis zur Pension. Ziemlich abgelegen. JWD. Herrlich.

Pension und Betreiber. Christine und Gilles hatten sich dort ihr Häuschen von anno 1820 renoviert und ausgebaut. Das Gästehaus, das Gilles gerade baute, und eine Jurte werden Gäste beherbergen. So kam ich in den Genuss, im großen Haus zu residieren, mit Blick auf bewaldete Berge, Felder, entfernte Höfe. Steinhaus, helles Holz, Holzdielen. Die Innenausstattung mit Liebe zum Detail gestaltet: Verzierungen aus Stein, farbigen Kacheln, Mosaike, Türen mit Gräsereinfassungen, allerlei Accessoires aus der Natur. Gilles legte auf dem immensen Grundstück Permakultur-Beete an, die Wasser wie ein Schwamm speichern und darum sehr geeignet für die trockene Gegend sind. Pflanzen filtern das Brauchwasser komplett in einer Bio-Kläranlage.

Beim Frühstück erzählten beide von ihrem Haus, dem Garten, wie sie sich kennenlernten. Sie stammen aus dem Savoie (bei der italienischen Grenze). Gilles stammt aus Lyon, lebte dort 35 Jahre, zog dann ins Savoie, lebte dort 20 Jahre, traf dort Christine, dann zogen beide in die Hohen Alpen. Sie hat zwei Kinder, er drei, und Enkelkinder gibt es auch. Er ist 14 Jahre älter als sie. Er war Friseur und sie seine Kundin. Beide glauben an die Energie des Universums. Christine vollzieht ein Ritual, wenn sie sich etwas wünscht, wenn sie nach einer bestimmten Sache auf der Suche ist. Sie schreibt konkrete Merkmale, sei es die ihres zukünftigen Partners oder die ihres zukünftigen Grundstückes, auf einen Zettel. Dann verbrennt sie das Papier und lässt den Wunsch ziehen. Ihrer Überzeugung nach geht er in Erfüllung, kommt das Vorgestellte von allein zu ihr, quasi vom Universum geschickt. Viele Gedanken können ins Bewusstsein kommen. Man solle sie vorbeiziehen lassen und sich nicht von seinem Ziel, seinem Weg abbringen lassen. Per se kein übler Rat. Mich erinnert das auch in gewissem Maße an das positive Denken. Dem ich wiederum ein wenig kritisch gegenüber stehen. Aber vielleicht sollte ich das mal mit dem Ritual versuchen? Christine bietet Meditationen für Gruppen an. Sie führte mich durch eine Intuitions-Meditation. Ich machte eine innere Reise zu einem Wunschort, und stellte mir zugleich meine Wunscharbeit vor. Ich mache Fortschritte.

 

Das Dorf und Land und Leute. Abends picknickte ich an einer Weggabelung gerade vorm Ortseingang von Saint André auf einer Steinbank, bei sich senkender Sonne, Olivenbrot, Gurke, Ziegenkäse, Tapinade aus schwarzen Oliven und Tomaten und Aprikosen. Saint-André-de-Rosans ist ein winziges mittelalterliches Dorf mit 60 Bewohnern und relativ vielen Gästezimmern. Der Ort war ehemals ein bedeutendes religiöses Zentrum. Die Ruinen der Prieuré (Priorei) aus dem 10. Jahrhundert stehen noch. Im Dorf begrüßt man sich fast immer, wenn man sich auf der Straße begegnet. Auch den Besuchern wünscht man Bonjour. Die Alten wie die Jungen spielen Petanque rund um den Dorfplatz, an dem sich Rathaus, Auberge, Brunnen und vier mächtige Platanen versammeln. Kinder, Jugendliche spielen und treffen sich hier. Ab und an fuhr die Bürgermeisterin und Landwirtin mit schwerem Landwirtschaftsfahrzeug vorbei, einen Ballen Stroh geladen.

Die regionale Tageszeitung Le dauphiné libéré für Hautes-Alpes, Alpes-de-Haute-Provence berichtet über den beginnenden Almauftrieb und das Leben der Schäfer, über ihre Wut auf die Wolf-Abschussquote, denn sie erlaubt nicht mehr, nun während des Almauf- und abtriebs sich und die Schafe vor Angriffen zu schützen, über die Eröffnung eines Hypermarchés (ein Super-Supermarkt) als Bedrohung für den lokalen Einzelhandel, die Krise der Oliven-Wirtschaft. Künstlervereinigungen, große und kleine Konzerte, Vorlesen in der Bibliothek und Kochkurse mit Kindern, einen Mordprozess, bei dem die Mörderin aus Eifersucht zu 30 Jahren verurteilt wird, einen Geschichtsverein, dessen Mitglieder die traditionelle Nussöl-Herstellung weitergeben. Und über die nationalen Ereignisse und Probleme wie über das ambitionierte Klimaschutzplan des Umweltministers oder die desaströse Unterbringung von Flüchtlingen in Paris, Calais und an der französisch-italienischen Grenze sowie eine weitere Verlängerung des Ausnahmezustandes aufgrund der Terrorattentate.

 

 

Der Ausflug nach Rosans, dem nächst größeren Dorf, startete rasant mit einem Mountainbike, stets bergab. Und endetet rasch, als die Kette beim ersten Versuch, in einen höheren Gang zu schalten, vom Zahnrad sprang. Unfähig, diese einfache Reparatur auszuführen, hieß es: schieben in praller Sonne bei 30 °C. Schuhe klebten an Teerstücken fest, die sich zu verflüssigen begannen. Gut durchgebraten erreichte ich nach anderthalb Stunden das Mittelalter-Örtchen, in dem außer dem Café am Platze alle Museen und Ausstellungen geschlossen hatten. Egal. Zu etwas anderem als hechelnd im Schatten Kaffee zu trinken, hätte die Kraft nicht gereicht. Doch, ein paar Fotos waren noch drin.

 

 

Naturlandschaft. Obwohl ich dem Meer eher zugeneigt bin, übte die Berglandschaft doch einen Zauber auf mich aus. Ich überraschte mich hier täglich aufs Neue. Sandsteinfelsen, unterschiedlichste kunterbunte Schmetterlinge, die weiße, einheimische Kuhrasse Charolais, Geier, Hirsche, Rehe, Dachse, die die Erdbeeren naschen, Siebenschläfer, die gerne die Hausdämmung anfressen und von der Katze des Hauses gejagt werden. Im Dorf und allerorts Stockrosen. In der Dämmerung rasen Hasen über die Wiesen. Es brummt und zirpt und sirrt und rauscht und raschelt und tropft und muht und bimmelt und plätschert und summt. Die Ruhe – die Geräusche der Natur waren für mich Ruhe – lädt zum Schreiben ein. So zog ich mich in mein Zimmer und das Schreiber-Kabuff zurück und veröffentlichte meinen ersten Blog-Eintrag, währenddessen Wein aus der Region genießend. Einmal blieb ich auf ein Weinchen länger in der Auberge. Der Rückweg im Dunkeln wurde vom Vollmond erleuchtet. Ich versuchte, keine Angst vor der tagsüber so freundlichen Natur aufkommen zu lassen. Beschwipst singend und vor mich her brabbelnd gelang das recht gut. Ein Pferd erschrak sich vor mir, bevor ich mich vor ihm erschrecken konnte.

 

Die Auberge. Die Leute der Auberge sind freundlich, warmherzig, unkompliziert. Die zarte, zurückhaltende und doch gesprächige Rosa gab mir einen Wein aus. Sie verbringt den Sommer nach dem Abschluss ihres Theaterstudiums und hilft ihrem Bruder Robin und dessen Frau Maelle im Restaurant. Der Chef ist auch der Koch, hat Dreads, ist sonst ziemlich alternativ. Ihr kleiner Sohn Émile tapste munter durch die Gegend. Die Geschwister (Mitte 30) sind zweisprachig aufgewachsen, die Mutter Engländerin, der Vater Italiener. Auch die Mutter lebte im Dorf. Vor Ort sprechen die drei natürlich französisch. An diesem romantischen Örtchen wurde übrigens der noch romantischere Film Le fils de l’épicier (Der fliegende Händler) gedreht. Das sagt eigentlich schon alles.

Etappe 4 – Nyons

4. bis 6. Juli 2017, Nyons, Hotel

Es war erbarmungslos schön hier. Anders lässt es sich nicht sagen. Alle Klischees über die Provence bewahrheiteten sich mit jedem Tag von neuem. Lichtumluftet schlenderte ich durch verschlungene Gassen, umgeben von niedrigen, alten, krummen Häusern. Katzen lagen auf den Mauern. Kleine Eidechsen flüchteten vor meinen beschwingten Schritten in die nächste Ritze. Das Hotel war ok, die Besitzerin hingegen erbarmungslos mufflig. Gut zu wissen, man kann also auch in der Provence schlechte Laune haben.

 

Wir befinden uns noch immer im Departement Drôme, auch Baronnies provençales genannt, aber schon in der Region Auvergne-Rhône-Alpes. Das kleine Städtchen zählt 6600 Einwohner. Nyons ist umgeben von bewaldeten Hügeln und dem typischen Strauchbewuchs. Die südlichen Voralpen liegen vor der Haustür, zwei Gebirgsachsen laufen hier zusammen: die Nord-Süd-Achse von Vercors und die Ost-West-Achse der Provence. Das Land ist von niedriger und mittlerer Höhe. Der höchste Berg ist etwa 1400 Meter hoch. Kalkstein und Mergel bestimmen das Gesteinsbild.

Die mediterrane Vegetation bietet außerdem Lorbeer, Feigenbäume, Olivenbäume, Aprikosen, dazu wilde Pfingstrosen und Orchideen. Es soll Gemsen, Biber, Geier, Königsadler, Fledermäusse (zumindest das kann ich bezeugen) und allerlei Reptilien-Getier geben.

Die Region ist bekannt für seine schwarzen Oliven und die Herstellung von hochwertigem Olivenöl. Die milde feine Olivensorte Tanche wird als schwarze Olive von November bis Februar geerntet. Den Olivenbaum gibt es seit über 9000 Jahren im Mittelmeerraum. Ursprünglich beheimatet in Syrien hat der Mensch ihn im gesamten Gebiet um das Mittelmeer verbreitet und kultiviert. Der Olivenbaum ist genügsam, er wächst auf sandigem, kalkreichen Boden. Er braucht viel Wärme, aber nur wenig Wasser.

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Ein Tag begann mit Shopping: Der Sommerschlussverkauf lockte auch hier. So probierte ich an. Erfolglos begab ich mich zum zweiten wichtigen Tagesordnungspunkt, dem Frühstücks-Capuccino, gegen Mittag. Ein Café-Restaurant, das auch von Einheimischen frequentiert wird. Dazu gab es Lektüre der regionalen Tageszeitung Le Tribunal. Regionalpolitik zu Querulenzen um ein Flughafen-Projekt mit angebundenen Industriegebiet (selbst in der Provinz gibt es einen Problem-Flughafen), unerbittliche Konflikte zwischen Landwirten, die Schädlingen mit Pestiziden zu Leibe rücken und Umweltschützern, die Bienen und andere Insekten vor Vergiftung bewahren wollen. Artikel zu unzähligen Konzerten von lokalen und überregionalen Bands, Sportevents von Radsport- über Kanu- bis Petanque-Wettbewerben. Bekanntmachungen von Hochzeiten und Verabschiedungen von zukünftigen Pensionären in wichtigen oder weniger wichtigen Positionen fehlten auch nicht. Das volle Leben auf dem Land.

Die Franzosen nahmen derweil ihr Mittagsmenü ein. Hier gilt noch für alle Geschäfte die Mittagspause (la sieste) von 13 bis 15 Uhr. Ich nahm mein Stück Pizza und ein Pain au chocolat am Fluss Eygrues zu mir. Eine Einheimische nutzte ihre Mittagspause für ein Sonnenbad auf den Steinen des Flussbettes.

 

Gestärkt ging es zur Distillerie Bleu (Blau), die ätherische Öle unter anderem von Thymian, Rosmarin und aktuell von Lavendel herstellt. Bei der Führung der Besitzerin, umgeben vom beruhigenden herben Geruch des Lavendels, erfuhr ich einiges über Geschichte und Herstellung dieses Familienunternehmens, gegründet in 1930er Jahren. In den 1990er Jahren zurückgekauft, setzten die Kinder die Produktion fort. Die Manufaktur wurde nach EU-Vorgaben umgebaut. Die Dampfbehälter mussten sich über der Erde befinden, also nicht, wie traditionell üblich, im Keller.

Von DEM Lavendel zu sprechen, ist allerdings die verkürzte Variante. Denn es gibt drei Lavendelarten, zumindest in der Provence. Der echte oder feine Lavendel wird meist für Düfte und Parfums verwendet. Er ist die edelste und teuerste Art. Die Pflanze wächst in 500 bis 1500 Metern Höhe. Der Speick-Lavendel gedeiht schon auf Höhen von 300 bis 600 Metern.

Und schließlich der Lavandin: ein natürlicher Hybrid aus den beiden Sorten. Es ist vor allem dieser, der das (Postkarten-)Bild von der blauen Provence prägt, da man ihn industriell seit Anfang des 20. Jahrhunderts auf großen Feldern anbaut. Quantitativ gibt er mehr her, seine Duft-Qualität ist eher mittelmäßig. Das auch immer die romantischsten Vorstellungen gemeine Kratzer bekommen müssen. Die Drôme im Ganzen ist ein wichtiger Produzent von Pflanzen wie Rosmarin, Lavendel, Salbei und Eukalyptus für Düfte und für medizinische Zwecke.

 

Noch tiefenentspannter als eh schlenderte ich danach ein Weilchen durch die Altstadt und kaufte die Ingredienzen für mein Abendbrot zusammen. Dann begab ich mich auf einen Hügel über der Stadt. Nach einer kurzen gefahrenvollen Wanderung auf steinigem, steilem Weg fand ich das perfekte Plätzchen, um dort bei Sonnenuntergang mit Baguette, Ziegenkäse, Gurke und Aprikose diesen anstrengenden Tag gebührend zu verabschieden. Es ist übrigens Aprikosen-Zeit, überall kann man sie an kleinen Ständen kaufen, die Obstbaumplantagen im Umland hängen voll der süßen Früchte. Ich entledigte mich meiner lang gepflegten Aprikosen-Abneigung – man soll sich schließlich den lokalen Gepflogenheiten öffnen. Es war zu meinem Schaden nicht.

 

Auf einem meiner Spaziergänge durch die Altstadt stieg ich das verwinkelte Gassenlabyrinth zu einem alten Turm aus dem 13. Jahrhundert hinauf, um eine Zigarette zu genießen, drangen unerwartet heimatliche Klänge in mein Ohr. Eine junge Frau spann mit ihrem Sohn eine Superhelden-Geschichte, auf Sächsisch. Nachdem ein freundlicher alter Herr, der gerade seine Blumen goss, jedem von uns Aprikosen von seinem Baum schenkte, sprach ich sie an. Wir teilten uns meinen Wein und sprachen über dies und das, Urlaubserfahrungen und … die Arbeit. Ja, die Arbeit ist auch unter der südlichen Sonne nie weit entfernt. Wenigstens die Gedanken daran. Manu und Till (7 Jahre) aus Dresden, und gebürtige Leipziger, erkundeten für zwei Wochen auch den Süden.

Sie hat BWL studiert und arbeitete seit sechs Jahren in einer Tischlerei in Dresden, auch und vornehmlich Kommunikationsprobleme mit den Chefs und mit älteren Mitarbeitern, im Umbruch, wir machten uns Luft über den Büroalltag, irgendwie auslaugend, und wenig belebende Einflüsse böte er. Darum entschied sie, eine Ausbildung zur Yogalehrerin zu beginnen. Nun, die zündende Idee für eine Alternative meinerseits fehlt noch. … Ein sehr nette Begegnung.

Etappe 3 – Montélimar

2. bis 4. Juli 2017, Montélimar, bei meiner zweiten Couchsurfing-Gastgeberin Catherine

Der Mistral bläst, bläst die Schatten Montélimars durcheinander. Die mittelgroße Stadt liegt im Departement Drôme. Sie ist die etwas unspektakuläre, aber die mit etwa 37 000 Einwohnern größere Stadt der Region Auvergne-Rhônes-Alpes. Westlich fließt die Rhône vorbei. Die Drôme bekommt den Zusatz „provenzalisch“, wohl aus Tourismus fördernden Überlegungen heraus. Die Stadt liegt sozusagen am Tor zur Provence.

Auch diese Stadt begrüßt mich mit Musik, diesmal brasilianische Lieder und Bossa Nova. Jeden Sonntag wird ein kostenloses Open Air Konzert im Pavillon des Jardin public geboten.

Catherine lebt ein paar Minuten entfernt vom Bahnhof in einem wohlhabenden Viertel mit alten Häusern und großen Gärten. Ihr altes Haus ist ein Kleinod. Versteckt hinter Mauern eröffnet sich ein herrlicher Garten. Da wachsen Palmen, ein Olivenbaum, Sträucher und Rosen. Von der Nachbarin ragen Zweige eines Feigenbaumes über die Mauer. Sie pflückt die Früchte heimlich auf ihrer Seite. Später wird sich in der Dunkelheit ein kleiner, aber eindrucksvoller Skorpion zeigen, den Catherine sogleich abmurkste – sie zerdrückte ihn mit einem Stein an der Hauswand. Er sei zwar harmlos, aber trotzdem nicht willkommen.

Auch hier durfte ich mich an mehrgängigen Abendessen laben. Zum Aperitif gab es Muscat (ein von Natur aus süßer Wein) und Melone, der Hauptgang war Ratatouille mit Feigen, Fleisch vom Lamm dazu. Eine Käseplatte folgte. Zum Nachtisch gab es frische Feigen oder Veilchen-Eis.

Ich wurde nahtlos in den Tagesablauf integriert. So holten wir zwischen Hauptgang und Nachtisch einen alten Holztisch von einer älteren Dame ab, den Catherine für ihre Kinder erstanden hatte. Pragmatisch und etwas abenteuerlich hing der Tisch zur Hälfte aus dem Kofferraum des kleinen Autos, verzurrt mit einem kräftigem Seil. Was nicht alles geht.

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Sie ist Psychomotricienne für Kinder. Sie ist 58 Jahre alt und hat selbst zwei Kinder (Paul, 25, und Lucie, 28), ist geschieden, reist gern und gerne ohne großen Plan. Wir unterhielten uns sehr gut über verschiedene Themen, über ihre Familie, ihr Erfahrungen mit Couchsurfing, über Frankreich. Sie fühlt sich ihrer Region nicht besonders verbunden. Sie sei per Zufall Französin und wisse, dass sie Glück habe. Ihre Tochter hatte einen Rumänen zum Freund. Er hatte in Frankreich große Probleme mit seiner Herkunft, sodass er, selbst mit exzellenten Sprachkenntnissen und einer angesehenen Arbeit, irgendwann auf die Frage, woher er käme, seine Herkunft verschwieg. Er käme aus einem nordischen Land. Das Leben in Rumänien sei hart, wenig Arbeit, viel Armut, kein Raum für Kunst, ein Staat, der kaum in Bildung investiert.

Das schöne Orange mochte sie nicht: Eine Front National Stadt sei das. Migranten (besonders Araber) und Homosexuelle hätten dort einen schweren Stand. Vor allem bis vor wenigen Jahren, als noch Fremdenlegionäre stationiert waren. Ehemalige Gefangene und Kriminelle, die Immunität durch die Anstellung für das französische Militär genießen. Harte, rohe, gewalttätige Männer, die eine unangenehme Stimmung in der Stadt verbreiteten. Außerdem seien die Orangois im Allgemeinen nicht sehr gebildet. Was eine kleine Anekdote aus dem Buchladen in Orange ins recht Licht rückt: Eine ältere Dame suchte für einen Freund ein Geschenk. Auf die Frage des Buchhändlers, was ihn denn interessiere, erwiderte sie, er lese kaum, liebe die Jagd, sei sonst nicht besonders intellektuell. Nun, eine Spezialität vom Fleischer wäre vielleicht angebrachter gewesen.

Montélimar hat eine Fahrradspur auf einem Stück Straße zu bieten. Fahrradfreundlich ist wohl keine der südfranzösischen Städte. Wozu sollte das auch gut sein? Die ignorante Stadtverwaltung hat die schmale Spur nur auf das Drängen einer Elterninitiative einrichten lassen, für die Schüler eines Gymnasiums.

Etwas Schönes hat Montélimar aber doch zu bieten. Es ist die traditionelle Stadt des weißen Nougat. Ich erstand in einer der dutzend noch heute produzierenden traditionellen Manufakturen eine große Tüte der Süßigkeit aus Zucker, Honig, Pistazien, Eiweiß und Vanille.

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Ganz untraditionell überraschte das Museum für zeitgenössische Kunst mit einer Pop Art Ausstellung (1960er bis zur Gegenwart): Originale Bilder und Objekte von Andy Warhol, Keith Haring, Jean-Michel Basquiat, KRM, 2ynss, polnische Künstlergruppe Lodz Kaliska, Frédéric Bouffandeau, Richard Olinski. Die Bilder von KRM hatten etwas ziemlich Interessantes.

Ich zitiere meine Gastgeberin: Montélimar wartet nicht mit außergewöhnlich Sehenswertem auf, dafür ist sie der Ausgangspunkt zu vielen hübschen Städten und Gegenden in der Auvergne und der Provence.

 

Etappe 2 – Orange

29. Juni bis 2. Juli 2017, Orange, Hotel

Mit 13 Kilo Gepäck auf dem Rücken, natürlich sind viel zu viele viel zu warme Strickjacken und Pullover dabei, und mit einem weiteren kleinen, aber schweren Rucksack kämpfe ich mich von Oranges Bahnhof zum Hotel. Auf dem Weg nehme ich nur schleierhaft die riesige Steinmauer wahr, und frage mich noch, wer so ‚was Sinnloses wohl in die Landschaft baut. Etwas später, erfrischt und satt, erfahre ich durch Touri-Broschüren und Info-Tafeln, dass es das größte römisch-antike Theater Europas war. Das besterhaltene Steintheater des westlichen Römischen Reiches, im 1. Jahrhundert n. Chr. erbaut. Die Besonderheit ist die noch existente äußere Theatermauer, 103 Meter lang, 37 Meter hoch. Ach so. Dieses beeindruckende Gebäude steht also in der alten Römerstadt, ursprünglich Arausio, die Augustus im 1. Jahrhundert v. Chr. gegründet hatte.

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Ich bleibe gleich bei der altehrwürdigen Geschichte. Es gibt ein mächtiges Bogentor, ein bedeutendes Bauwerk der provenzalisch-römischen Kunst. Der Bogen auf der Straße von Agrippa wurde zum Ruhm den Stadtgründern der römischen Kolonie Orange geweiht. Die Darstellung von gallischen Gefangenen symbolisiert die Herrschaft Roms. Aller guten Dinge sind drei: Was mich hat staunen lassen, waren die römisches Kadaster. Mit diesem System konnte man Ländereien gerecht aufteilen und Steuern erheben. In Mamor eingraviert sind diese drei erhaltenen Kadaster einzigartig in der römischen Welt. Andere Schätze und Statuen wie das geflügelte Wesen beherbergte das Museum.

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Heute liegt Orange im Departement Vaucluse und hat etwa 30 000 Bewohner. Nicht weit entfernt erhebt sich der Mont Ventoux, 1900 Meter hoch, Teil der provenzalischen Voralpen. Der „windige Berg“ ist einer der drei heiligen Berge der Provence. Wenn man den Hügel Saint Eutrope erklimmt, kann man das alles überschauen.

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Beim Bummeln blieb ich in einer Buchhandlung hängen, um meine Kenntnisse aufzufrischen. Ganz Frankreich teilt sich in zwei große Sprachgebiete: die Langue d’oil, also das Altfranzösische, im Norden, und die Langue d’oc im Süden. Hier sprach man Okzitanisch. Das Provenzalische ist einer der vielen Dialekte im Gebiet der Langue d’oc. Es teilt sich wiederum in vier Dialekte auf: das Rhodanische, das Nissart, das maritime Provenzalische (um Marseille) und das Alpinprovenzalische. Kaum noch jemand spricht diese Dialekte, vielleicht ein paar ältere Leute. Was man aber hier hört, ist die südliche Aussprache von bien [biäng] und demain [demäng].

Brunnen plätschern, Franzosen plaudern. Weißhäupter überall, ältere Herrschaften, Pärchen mittleren Alters, gutbetucht. Natürlich Touristen. Die Einheimischen, selbst die älteren, sind äußerst geschmackvoll gekleidet, farbenfroh, viel Schmuck, schicke Schuhe (oft mit Absatz und Keilabsatz), schlanke Figuren. Gutgelaunt sind die Leute. Man kennt und trifft sich im Café. Bei einem Kaffee oder einem Weißwein am Nachmittag plaudern und lachen sie.

Um eine abgenutzte Redewendung einzuwerfen: Wie Gott in Frankreich. Oder königlich. So fühlte sich es an, unter der Sonne zu wandeln, die heiße Haut gekühlt vom provenzalischen Wind, Zikaden schnarren wieder ohrenbetäubend. Allein die römischen Mauern und Gebäude beim Frühstückskaffee im Café du Théâtre vor Augen zu haben, war vorerst ungreifbar. 2000 Jahre stehen sie dort. Ein paar Meter vom Antiken Theater entfernt mahnt ein halbfertiges Haus, dass unser eins in diesem und dem vorhergehenden Jahrhundert Probleme hat, Pläne umzusetzen, damit etwas von Beständigkeit bleibt. In diesem besonderen Falle, in dieser Stadt, wird vor allem den Sozialisten die Schuld gegeben. Damit das auch ja niemand vergisst, brachte die aktuelle Regierung ein Schild an. Man hofft, dieses habe lange Bestand. Man wählt hier rechtskonservativ bis nationalistisch. Es gab auch schon einen Bürgermeister der Rechten. Bei all der Schönheit vergisst man das leicht.

 

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Zurück zum königlichen Gefühl. Mein Zimmer ist mit Polstersessel und Polsterbett in royalem Stil ausgestattet. Selbst die Toilette steht auf einem Sockel. Man sitzt darauf gleichsam wie auf einem Thron und kann die Beine baumeln lassen. Wen das stört, ziehe wesentlich unroyaler den Mülleimer als Fußstütze heran.

 

 

Beim Essen hielt ich mich vornehm zurück: Zum Picknick auf einer Bank oder einer Steintreppe gab es Baguette, den billigsten Camembert aus dem Angebot, eine Tomate, etwas Obst. Ein Eis darf’s dennoch zwischendurch sein (Karamell mit gesalzener Butter).

Musik ist abends allgegenwärtig. Ich habe königliches Glück: Eine Open Air Jazz Festival vor dem Hôtel de ville. Ein Pop-Rock-Konzert auf dem Platz genau neben meinem Hotel, für oder vom Restaurant gebucht. Eine Opernprobe im antiken Theater für Museumsbesucher gleich inklusive. Selbst ein hartgesottener Opernignorant wie ich es bin, kann sich dieser Wirkung kaum entziehen. Mächtige Stimmen dreier Sänger ohne Verstärker, mit Klavierbegleitung, tönten klar über die 7000 Plätze. Tiefer Bass, Sopran, ein schöner Klang, der mir den Mund offen stehen ließ.

Am letzten Abend hörte ich ein super Konzert der Band Charlie and the Soap Opera. Energetischer Funk, Soul, Rock. Man musste tanzen, das war unausweichlich. Selbst die Weißhäupter ließen sich beim letzten Song dazu bewegen, von ihren Stühlen aufzustehen und die Hüften zu schwingen.

Es freute mich, von Musik umgeben zu sein. Mittlerweile wirbelte der aufkommende Mistral durchs Haar und ließ die Menschen ihre Strickjacken enger um den Körper schlingen. Wolken zogen unter Wolken schnell dahin. Und so verließ ich beschwingt, mit dem Wind im Rücken diesen geschichtsträchtigen, verdammt schönen Ort weiter Richtung Norden.

Etappe 1 – Vernègues

27. bis 29. Juni 2017, Flug nach Marseille, Bus nach Salon-de-Provence, Domizil im Dorf Vernègues bei meinen ersten Couchsurfing-Gastgebern Oliver und Isabelle

Dem kühlen Berliner Sommer entronnen finde ich mich innerhalb weniger Stunden in die Hitze des Südens versetzt wieder. Während der Busfahrt vom Marseiller Flughafen in nördlicher Richtung nach Salon-de-Provence zieht an mir die vertraute und geliebte heitere Landschaft vorbei, mit Sträuchern und niedrigen Bäumen, locker beieinander stehend. Hitze, Hügel, Kalkstein, Kreisverkehre. Rot-braune Ziegel, Olivenbäume, erste kleine Weinrebenfelder. Lavendel zur Zierde, Platanen, helle Steine, Wind. Die allgemeingültige Vorstellung von Südfrankreich, der Provence.

Oliver, mein Gastgeber, holte mich aus Salon mit dem Auto ab. Diesmal wollte ich mehr in das Leben dieser Region eintauchen. Darum die Suche nach Einheimischen über die Internet-Plattform Couchsurfing. Bevor mir Oliver sein OK gab, hatte ich so einige Leute angeschrieben. Im Sommer zur besten Urlaubszeit ist es eben nicht leicht. Man schreibt jemanden an, den man sympathisch, interessant, vertrauenswürdig findet. Oliver schien das zu sein, ein besonderer Anreiz war aber sein Musikerdasein. Und dass er sich mit Charles Aznavour hat fotografieren lassen. Dass die Person auf dem Bild allerdings die Wachsfigur des berühmten Chansoniers war, sollte ich erst später erfahren.

Wir fuhren in das Dorf Vernègues, zehn Kilometer abseits der Stadt gelegen. Bei Spaziergängen in den nächsten zwei Tagen breiteten sich ländliches Leben und Landschaft vor mir aus. Das unheimlich laute Schnarren einer Zikade begrüßte mich. Es ist ein seltsames Geräusch, das mich, ob in der Stadt oder auf dem Land, unablässig begleiten wird. Es scheint, als würden sich an steinigen Wegesrändern und auf den Feldern winzige alte Waschbrettspieler geräuschvoll verstecken. Weiße kleine Schnecken im Lavendel und in anderen Sträuchern, Ernte eines Weizenfeldes vor dem Gewitter. Käfer mit Bienenstreifen, Katzen, Katzen, Katzen. Les chats s’allongent sur les rues et les murs, ses canapés de pierre. (Auf Deutsch etwa: Die Katzen strecken sich auf Straßen und Mauern aus, ihren Sofas aus Stein.) Krähende Hähne und kleine Hunde, die Grundstücke tapfer bewachen, Maschinengeräusche von Handwerksarbeiten, eine Chorprobe mit Akkordeon, schwere Melodie, vom Wind hinausgetragen.

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Während der Fahrt erfahre ich, dass Oliver Mitte 40 und Deutscher ist, der seit zwanzig Jahren in Frankreich lebt. In einer ganz ruhigen Art erzählt er von seiner Arbeit als Musiker und Musiklehrer. Ich mühe mich mit meinem eingerosteten Französisch ab. Das Verstehen macht weniger Probleme, als die richtigen Worte sprechend in die korrekte Reihenfolge zu bringen. Als er zu dem Part seiner Herkunft kommt, plädiere ich fürs Deutsche. Denn unter diesen Umständen war es für mich zu seltsam, sich in einer anderen Sprache zu unterhalten. Als er ins Deutsche wechselte, blieb ein leichter französischer Akzent. Ich musste mich zurückhalten, nach jeder Kurve ständig auszurufen, wie schön das hier alles ist. Zuhause angekommen, begrüßte mich seine Freundin Isabelle, eine waschechte Pariserin, und es ging zurück ins Französische. Ich durfte im Zimmer eines der Kinder schlafen, statt auf der Couch in einem richtigen Bett. Ein einstöckiges, gemütlich eingerichtetes Haus mit einer großen Terrasse zum Garten hinaus. Beide haben zusammen fünf Kinder aus früheren Partnerschaften. Gerade weilten sie aber bei ihren andern Elternteilen.

Isabelle bereitete ein typisches französisches Essen zu, wie es das wohl oft abends bei ihnen gibt. Zum Aperitif Pineau (aus Traubenmost und Eau de vie vom Cognac hergestellt), Nüsse und Brezeln, einen Salat als Vorspeise, zum Hauptgang Zucchini-Zwiebel-Pilz-Gemüse, Hühnchenfleisch in einer Sesam-Curry-Kümmel-Marinade, etwas Baguette, Rotwein dazu, zum Nachtisch eine Käseplatte, mit vier verschiedenen Sorten, schließlich als Dessert Frischkäse und Erdbeermousse und Melone. Es wurde zwei Stunden gegessen und erzählt, Pausen zwischen den einzelnen Gängen, kleine Portionen. Die erste größere Herausforderung dieser Reise bestand darin, dem Reflex zu widerstehen, alles ausnehmend Köstliche in mich hineinschlingen zu wollen. Ich wäre dann nach einer Viertelstunde schon fertig gewesen.

Bis in die Nacht hinein saß ich mit Oliver bei Rum und Rauch, begleitet von einem heftigen Gewitter mit Blitzen und dem ersten heftigen Regenguss seit zwei Monaten. Wir sprachen über Arbeit, Zeit für eigene Projekte und seine Patchworkfamilie und das Leben zwischen Arbeit, Kindern, Haushalt und Partnerschaft. In den nächsten Tagen begleitete ich Oliver zu seinen Wirkungsstätten und erkundete zwischendurch das Dorf.

Einmal spazierte ich im Sommerregen hinauf zu den Ruinen des alten Vernègues, das 1909 durch ein Erdbeben völlig zerstört wurde. Am Wege standen Disteln, in grausiger Schönheit. Vom Hügel konnte ich nach Südosten auf die Montagne Sainte-Victoire blicken, Lieblingsberg und wiederkehrendes Motiv von Cézanne.

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Mein Gastgeber ist also Sänger und Multi-Instrumentalist: Er spielt Gitarre, Klavier, Saxophon, Klarinette, Bass. Darum konnte ich, allein im Haus, auf seinem wunderbar klingenden Kontrabass noch einmal vor meiner langen Spielpause üben. Außerdem arbeitet er als Musiklehrer, Chorleiter, Entertainer und Komponist. Von dieser Mannigfaltigkeit bekam ich einen Einblick beim Abschlusskonzert der örtlichen Musikschule. Der große Saal war brechend voll. So klein der Ort mit seinen 200 Einwohnern ist, so lebendig ist die Gemeinschaft. Kunstgalerie, Musikschule, Chöre, fast wöchentliche Feiern auf dem Platz vor dem Rathaus. An Intrigen und Konflikten mangelt es bei dieser Dichte freilich auch nicht. Als beispielsweise reihenweise Gitarre-Schüler von einer alteingesessenen Lehrerin zu ihm wechselten, und diese Frau dann stellvertretende Direktorin der Musikschule wurde, bekam er schnell Neid und Missgunst zu spüren. Man nahm seinen Schülern unter fadenscheinigen Begründungen einfach Spielzeit auf dem Abschlusskonzert weg.

Auch erzählte er von anfänglichen Schwierigkeiten, als Musiker an Auftritte in Südfrankreich zu kommen. Hatte man ein gutes Konzert gegeben, würde man nicht einfach so weiterempfohlen. Geldscheine müssten eine Empfehlung animieren. Es herrsche ein unangenehmes Geklüngel und eine enorme Konkurrenz. Sehr viele Musiker suchten in der Region nach gut bezahlten Spielgelegenheiten. Im Gegensatz zu seinem schnell aufgebautem Netzwerk in Nordfrankreich, wo er jahrelang lebte und arbeitete, erwies sich hier im Süden der gleiche Prozess als äußerst zäh.

Anderntags fuhr ich mit zur Chorprobe der Manosqu’eens and Manosqu’ings nach Manosque. Während wir Keyboard und sonstiges Equipement in den Garten eines fast schon herrschaftlichen Anwesens schleppten, klangen uns Gesang und Gelächter entgegen. Die lustige Gruppe mit vielen Sängerinnen und einem Sänger ist ziemlich international, aus England, den USA, Frankreich, Spanien, Deutschland und der Schweiz stammen sie. Oliver hielt den fröhlich schnatternden Haufen mit seiner ruhigen, aber bestimmten Führung immer wieder dazu an, zu singen und machte feinfühlig Verbesserungsvorschläge. Er hatte Ausdauer, immer wieder störten schiefe Töne die Harmonie, ließ wiederholen und wiederholen. Ich lauschte angetan, nickte vor Müdigkeit aber fast ein.

Songs wie Ain’t no sunshine und The Saints go marching in klangen nach, während wir in der Dunkelheit über kurvige Bergstraßen endlich zurückfuhren. Um mir noch eine andere Stadt zu zeigen und vor allem weil wir Hunger hatten, machte Oliver einen Umweg nach Aix-en-Provence. Er führte mich zum besten Pizza-Kiosk der Stadt, und wir schlenderten bei Nacht durch die Straßen. Er zeigte mir das ehemalige Wohnhaus, in dem er mit seiner Ex-Freundin lebte. Ihre Amour fou, intensiv, aber völlig ungesund, dauerte quälende Jahre. Beim heimlichen Eindringen ins Haus inspizierten wir den Briefkasten, auf dem immer noch ihre Namen standen. Ich fischte dann einen an sie adressierten Brief vom Finanzamt heraus. Ob oder wie er den Brief später an sie weitergab, erfuhr ich nicht mehr.

So endete mein erster Aufenthalt und war dank Oliver und Isabelle bereits erfüllt von Eindrücken und Geschichten über das Leben im südlichen Frankreich.