Epilog

Bald keine Musik mehr, im Gegenteil nur Licht. Gleißende Wärme in den Augen, im Gehirn, im Herzen, im Körper. Die Natur hat die Musik ersetzt. Sorgenvoll ist mir hier ein Fremdwort. Die Leichtigkeit generiert alle zwei Tage ein Schuldgefühl. Dort arbeiten sie, für sich, für andere, für die Gemeinschaft. Hier sitze ich und ruhe und genieße und schreite die Langeweile aus. Bis die Füße weh tun. Dann klage ich. Und dann sagt das Schuldgefühl: Du hast kein Recht auf Klage. Zur Welt zu kommen, ist eine recht schwere Last. Man braucht Kraft, es bis zum Ende durchzuhalten. Der Schatz der Morgendämmerung ist die Weisheit. Sie sehen traurig aus. Gibt es einen Grund? Ich suche einen Ort. Einen Platz. Wie soll man ohne Licht leben? Einer braucht einen Ort, um glücklich zu werden. Manche werden geliebt und sind trotzdem unglücklich. Die Landschaft ist wie überbelichtet. Über und über und über. Am Abend kommen die Schatten und die Sicht wird tiefer. Man blickt hinein. In die Landschaft. In sich. Es wird klarer in der (eigenen) Welt.

(mit Zitaten aus dem FilmLa sapienza“ von Eugène Green)

 

Devant l’atelier du typographe, Grignan

Le son d’une machine qui imprime

poussant en temps

au rythme martelant avec

Le rythme d’une cigale

chantant comme une crécelle

Le rythme de trois chiens haletants

Le rythme de gens ralentirants par la chaleur

Le rythme de cloches d’autrefois

Mais cela est la mesure

d’aujourd’hui, d’ici.

Etappe 10 – Marseille

24. bis 29. Juli 2017, Marseille, Hotel, mit Jana

Mit dem Bus nach Avignon und mit dem Zug nach Marseille, wo Jana schon am Bahnhof wartete. Wir hießen unseren gemeinsamen Urlaub Willkommen: am Vieux-Port (Alter Hafen) mit teurem Kaffee und später in bester Laune am MuCem, dem modernen Mittelmeer-Kulturen-Museum (dessen Fassade unverständlicherweise nicht Janas volle Begeisterung bekam) mit typischem Picknick und Weinchen und langen Gesprächen.

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Das Bett in unserem „modernen“ Hotel war ein kleiner Albtraum (ja, ich habe das Hotel ausgesucht), klein und schwankend wie ein Wasserbett, indem man immer daran Teil hatte, sobald der andere sich bewegte. Die Laune war am nächsten Tag entsprechend gedämpft. An der Streitkultur kann jedoch gearbeitet werden – denn wir hatten keine. Wir grummelten so lange schweigend vor uns hin, bis sich das Grummeln in Luft auflöste. In diesem Falle vom Winde verweht wurde. Mal wurde die eine vom ersehnten Strand-Entspannen aufgescheucht, mal verweigerte die andere jeden Museumsbesuch. So nervten wir uns abwechselnd. Gleichberechtigt immerhin. Auch beliebt war das ewig lange Irren durch die heiße, große Stadt, um ein Plätzchen zum Picknicken zu finden. Bänke und Parks sind der Franzosen Sache nicht. Was wäre ein Urlaub ohne Ärgernis – auf alle Fälle langweilig. Also was uns nicht umhaut, macht uns nur stärker.

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Wir wurden jeden Tag, wenn wir gegen Mittag unser Zimmer verließen und den Schlüssel abgeben mussten, von den Hotelbesitzern gefragt, ob wir gut geschlafen hätten. Nach ein paar Tagen wäre ich ihnen um ein Haar an die Kehle gesprungen. Unser Frühstück teilten wir auf. Jana nahm ihres auf dem Zimmer mit den Zutaten vom Vorabend zu sich, inklusive Kaffee aus dem Hotel-Automaten. Mein Tag begann mit Cappuccino gegen 12 Uhr in einem Café.

Im Gegenwind bummelten wir tapfer durch das Viertel Le panier, kämpften uns an den Docks entlang, um einen Blick auf den großen Hafen zu werfen. Die alten Hafengebäude wurden als high-class Shopping-Meile oder Konzerthalle genutzt.

Drei Tage begleitete uns auf unseren Ausflügen ein sehr heftiger Mistral (40km/h, mit Böen bis 70 km/h). Wir waren erschöpft. Einmal knickten wir wegen des Windes das Picknick und retteten uns in eine Pizzeria. Dort konnten wir uns gerade noch die Vorspeisen leisten. Die sättigten uns und waren ziemlich schmackhaft. Manchmal braucht es nur die kleinen Dinge, um zufrieden zu sein. Jana suchte mit ihrem modernen Device das nächste Spazierziel aus. So im Viertel um den Cours Julien gebummelt, ein lebhafter, ovaler Platz mit vielen Cafés und Restaurants, wo sich Einheimische, Studenten und Touristen tummelten. Man hatte immer was zum Schauen. So wurde er auch Stammplatz für unseren Morgenkaffee gegen Mittag (Janas zweiter, mein erster).

Es war schön, Hitze, Stadtansichten, Bummeln, Blick aufs Meer, Zikadengeschnarr zu zweit zu erleben. Gemeinsam mehr oder minder nette Anmachen abzuwehren oder zu ignorieren. Hier und da ein Kompliment oder ein kurzer Small Talk ist das Schlechteste nicht. Jana kam nach ihrem Geschmack etwas zu gut an mit den blauen Augen und ihrer ganzen Erscheinung. Aufdringliche Blicke. Durchquerten afrikanische, arabische, wohlhabende, alternative Viertel. Viele Obdachlose und Arme. Bunt, wirbelig, laut, energisch, verschiedene Gerüche, Graffitis. Ich mag das abwechslungsreiche Straßenbild und die Stimmungen sehr. Doch es ist auch befremdlich, durch manche Straßen zu laufen (zumal mit einem sommerlichen Trägerkleid), wo fast ausschließlich Männer stehen und Frauen zumindest in dieser Gemeinschaft des öffentlichen Raumes kaum eine Rolle spielen. Wahrscheinlich lesen sie ihren Männern zuhause die Leviten, aber das bleibt einem verborgen. Man kann nur spekulieren. Am alten Hafen verkaufen fliegende Händler ab der Abenddämmerung bunten, blinkenden Schnulli, Tee und Snacks. Kleine Spektakel, Akrobatik, arabische Lieder.

Kulturelles Highlight sollte ein Kinobesuch werden. Im Land der Filmkultur. Ein bemerkenswert schlechter Film, aber kein französischer. Wir konnten uns nach einer halben Stunde gequälter Langeweile und nach verzweifeltem Warten, ob irgendjemand irgendetwas halbwegs Intelligentes oder Interessantes von sich gibt, vor Lachen kaum noch halten. Ich schmiss das Handtuch, wartete draußen – und langweilte mich dort. Jana hielt heldenhaft durch.

Cassis. Ort an der Côte d’Azur. Wir wandeln in Südfrankreichs subtropischer Klimazone entlang der Mittelmeerküste, laufen an subtropischen Hartlaubgewächsen vorbei. (Nicht sehr subtil, aber irgendwo musste es untergebracht werden.) Zikaden begrüßen uns. Und Massen von Touristen. Nettes Städtchen mit Stadtstrand. Wir saßen hinter allen und schauten aufs Meer von Menschen und aufs weite Blau. Picknick. Träge, langsam, gelassen.

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Zur Zeitungslektüre, wieder die La Provence für Marseille, vom 29. Juli. Man führte einige Verdächtige vor Gericht, die einige der verheerenden Waldbrände entfacht hatten. Der alte und populäre Seebär Olivier de Kersauson berichtete von seinen Segeltörns, vom Meer und seinem Marseille, ein poetischer und bisweilen sexistischer Seemann (aber das würde er nur spielen, wie der Journalist versichert), ist Rekordsegler, konzipierte einen neuen Bootstyp, schreibt Bestseller. Einem Chirurgen gelingt es, den abgetrennten Unterarm eines Arbeiters wieder anzunähen. Eine 15-Jährige stirbt an Masern, wobei wir wieder bei der Impfdebatte wären. Ein brutaler Raubüberfall auf eine 70-Jährige. In Marseille lag der Kandidat für den Front national hinter Macrons neuer Partei LREM und der (rechts-)konservativen UMP. Die Gay Pride fand auf der Haupteinkaufsstraße Marseilles statt. Leidenschaftliche Berichte vom Wettkampf im Jeu Provencal, das eine Art Boule-Spiel ist. Ans Licht kam, dass die Arbeitsministerin Muriel Pénicaud als frühere Chefin der Personalabteilung des Konzerns Danone einen Gewinn durch Aktienverkauf von einer Million Euro für sich herausholte, während der Konzern zur selben Zeit 900 Mitarbeiter entließ. Das sei legal, aber recht schlecht für die öffentliche Moral. Zynischer Finanzmarkt und skrupellose Politikerin.

Der letzte Abend endete bei einem ausladendem Abendbrot unter freiem Himmel mit Tabouleh und Hummus von einem klitzkleinen Laden eines libanesischen Ehepaars und Wein an einem Plätzchen, von dem man noch das Meer sehen konnte. Der Abschied von einer mal gemütlichen, mal anstrengenden und gerade darum guten Woche zu zweit in Marseille.

Etappe 9 – Salavas und Vallon Pont d’Arc

20. bis 24. Juli 2017, Salavas, bei Chloé

Salavas, Vallon Pont d’Arc. Abends mit dem Bus die Rhône überquert und nach Vallon Pont d’Arc. Chloé, die mich damals in Grignan eingeladen hatte, holte mich nun ab und wir kauften fürs Abendessen im Supermarkt ein. Dann ging es zu ihr ins Nachbardorf Salavas, in eine geräumige Wohnung in einem alten Haus mit Blick in den grünen Hof. Zwei Punkte wurden mir fast am Ende meiner Reise erfüllt: Ich kam zum ersten Mal in den Genuss einer typisch französischen Tarte, von Chloé zubereitet. Und selbst ohne Couchsurfing-Netzwerk schlief ich zum ersten Mal auf einer – sehr bequemen – Couch.

Bekannt und beliebt, die Einordnung: Die zwei Orte liegen in der Region Auvergne-Rhône-Alpes, im Departement Ardèche. Vallon zählt um die 2300 Einwohner, das Nachbardorf Salavas auf der anderen Seite des Flusses Ardèche bringt es auf 620 Bewohner. Spätestens hier fällt auf: Viele Departements sind nach Flüssen benannt.

Chloé hat Deutsch und Französisch studiert. Ihre Abschlussarbeit behandelte Heine. Sie war Fremdsprachenassistentin, unterrichtete Französisch als Fremdsprache. Als eine Reisende kam sie viel herum: in Düsseldorf Erasmus-Studium, in Regensburg Dozentin an der Uni, in Ungarn Lehrerin, in Paris ein Jahr gelebt, in Montélimar Praktikum in einer Buchhandlung, in Vallon Touristenführerin in der Höhle, in Grignan Praktikum in der Colophon-Druckerei (siehe Etappe 7) und aktuell Arbeit im dortigen Buchladen.

Frankreich und Deutschland. Gute Gespräche führten wir mal auf Französisch, mal auf Deutsch über uns, über Klischees und Realitäten unserer Landsleute, über Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen. Ihre Meinung zu Macron: Sie kenne seine Art und seine Pläne zu wenig. Was sie allerdings bisher verstanden habe, würde der neue Präsident Frankreich wie ein Unternehmen regieren. Den Unternehmern werde seine Regierungszeit sehr gefallen. Auch sie habe Macron widerwillig gewählt, um LePen zu verhindern. Sie findet die Haltung und Maßnahmen Deutschlands gegenüber Flüchtlingen sehr gut. Frankreich habe eine Null-Akzeptanz-Politik Einwanderern gegenüber. Sie halte Politiker und Franzosen im Allgemeinen für rassistisch. Es gebe kein Nachdenken und keine öffentliche Debatte über Alternativen. Die Nation der Menschenrechte spricht über so etwas Unangenehmes nicht. Sogar eine Quote für Asyl von politisch Verfolgten. In Ungarn, wo alle offen rechst sind, würde man die Meinung wenigstens offen aussprechen. Diese Haltung habe historische Gründe: Linke Überzeugungen seien gefährlich aus der Erfahrung der sozialistisch-kommunistischen Zeit heraus.

Europa. Für ihre Schwester (18 Jahre) sei es unbewusst selbstverständlich, einen Ausweis zu haben, mit dem sie in Europa überall hin reisen könne. Die östlichen EU-Länder hätten jetzt eine Anti-Haltung, sie seien aber auch noch nicht so lange Teil der Gemeinschaft. Das heißt, sie bräuchten Zeit, bis auch sie sich eingliedern werden.

Die Ardèche. Ausflug an der Ardèche entlang, im Dorf Aiguèzes Mittag gegessen, Baden und Faulenzen an einer Stelle, an der die Schlucht steil ist, der Fluss tief liegt, die Kalksteinwände hoch aufragen, grün bewachsen, Pont d’Arc angeschaut, einen beeindruckenden Mäander gesehen … Hiervon würde es wunderhübsche Bilder geben, wenn ich nicht vergessen hätte, den Akku aufzuladen. Die Ardèche hat sich wahrscheinlich Millionen Jahre lang in den Stein gegraben. Viele Höhlen gibt es hier, Grotten, Zeichen von Menschen, die vor über 30 000 Jahren in den Höhlen lebten, schliefen, kochten, Kulte hielten, Überreste auch von wilden Tieren.

Müßiggang. Bei Chloé herumgehangen (sie arbeitete übers Wochenende in Grignan), Sachen gewaschen. Kleiner Ausflug zum Strand, Beine in die Ardèche gestellt, inklusive Mallorca-Feeling. Auf dem Rückweg Halt in einer Straßenbar, einen Pastis hineingequält, denn das Getränk gehörte zum Provence-Pflichtprogramm. Mich vorzüglich gelangweilt in der Hitze eines späten Nachmittags. Durch Vallon tagsüber und Salavas nächtens gebummelt. Morgens auf dem regionalen Markt Gemüse, Lebensmittel und ein Geschenk für Chloé besorgt. Wieder viel Eis gegessen. Während ich das Eis schlemmerte, blickte ich auf das Karussell am Marktplatz. Diese altmodischen Gefährte gehören zum Inventar fast jedes etwas größeren Ortes in Frankreich. Das Flugzeug war bei den Fahrgästen erstaunlicherweise die beliebteste Sitzgelegenheit. Daraufhin eine Packung Himbeersorbet gekauft.

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Doch auch ein bisschen Kultur. In der versteckten kleinen Galerie du Bourdaric unterhielt ich mich mit dem Galeristen. Er initiierte übergreifende Kunstprojekte von Bildenden Künstlern und Schriftstellern. Er stellte auch Einzelkünstler, Maler aus. Eines seiner letzten Projekte hatte Gedichte von Michel Houellebecq und einer Künstlerin zum Thema. Sie illustrierte seine Gedichte, daraus schuf der Galerist und Herausgeber ein dünnes Buch. Das Stück zu 2000 Euro. Houellebecqs Romane kämen besser bei deutschen als bei französischen Lesern an. Zu dieser Zeit würden sich viele junge Künstler, auch in Deutschland, dem Sujet Landschaft widmen. Zeitgenössische Landschaften nannte er sie. Mit beispielsweise einem grauen Viereck mitten auf dem Bild. Für die Kunst gelten schwierige Zeiten, denn in Frankreich kaufe niemand Kunst, im Gegensatz zu beispielsweise den USA und Deutschland. Die Kunst im Privatraum sei wenig geschätzt. Ich solle mich melden, wenn ich (die ich aus der Verlagsbranche komme und in Berlin lebe) Ideen für Buchprojekte hätte oder Kontakte zu interessanten Künstlern.

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Lektion über französisches Arbeits- und Provinzleben. Ich wollte eigentlich für uns kochen, damit wir abends gemeinsam hätten essen können. Aber es kam anders. Wir wurden von einer ihrer Ex-Kolleginnen und Freundin (aus der Höhlen-Nachbildung) zum Apéro eingeladen. Das fast schon Anwesen zu nennende Haus lag versteckt zwischen Weinfeldern. Die Hausherrin war in ihren Sechzigern, die anderen Freundinnen in Chloés Alter (um die 30), oder jünger. Wir unterhielten uns über Arbeitsbedingungen in Frankreich und Deutschland. Vor allem mit der Deutschen Charlotte, die vor sechs Jahren nach Frankreich kam. Sie war sehr unzufrieden: Als Ausländer sei es sehr schwer, einen guten, unbefristeten Arbeitsvertrag zu bekommen. Verträge zwischen sechs und neun Monaten, die Verlängerung immer ungewiss. Selbst als Lehrer sei man als Ausländer eine Art Honorarkraft, die nicht in den zwei-monatigen Ferien bezahlt wird und folglich auch nicht staatlich versichert ist. Selbst wenn man ausgezeichnet französisch spricht, kann es sein, dass man wegen des Akzents nicht eingestellt wird. Zu Einstellungskriterien in Frankreich und Deutschland meinte Chloé, in Frankreich sei das Diplom oder ein Zertifikat das Ausschlaggebende, in Deutschland seien Arbeitgeber in diesem Punkt weniger eingeengt. Sie möchte gern eine Ausbildung als Buchhändlerin machen, weil ihr Traum eine eigene Buchhandlung ist. Es gebe jedoch für sie zurzeit keine Möglichkeit, eine Ausbildung zu machen, da sie aufgrund ihres Alters die Buchhandlung zu viel Kosten würde (der Mindestlohn 1200 Euro, eine jüngere Auszubildende nur 600 Euro).

Dann brach unser Gespräch ab, weil es einen Unfall gab. Der Ex-Mann der Gastgeberin, ein Engländer, fuhr in voller Fahrt mit dem Fahrrad an eine Hausmauer. Er lag bewusstlos auf der Seite, das Gesicht zur Mauer, der Boden voller Blut. Höchste Aufregung, Schockzustand. Die älteren Frauen sahen sich schnell im Stande zu helfen. Sie kannten ihn und sprachen englisch. Eine jüngere, beherzte, redselige Frau klärte uns über den speziellen Gesundheitszustand des Verunfallten auf: Er habe Parkinson und nehme starke Medikamente, die seinen Charakter, seine Psyche und sein Verhalten stark beeinflussen und verändern. Er habe Halluzinationen, Wutausbrüche, Desorientierung, wie auch an jenem Tag, schon kurz zuvor bei einem Freund. Die Ex-Frau fühlte sich verantwortlich und schuldig für diesen Unfall, und allgemein sah sie es als ihre Pflicht, sich um ihn zu kümmern. Alle versuchten mit Nachdruck, ihr die Schuldgefühle auszureden. Ein interessanter Fakt: Die gerufene freiwillige Feuerwehr (entspricht unseren Rettungsassistenten) brauchte 45 Minuten, da der Fahrer den Ort falsch verstanden hatte und an einen anderen, ziemlich weit entfernten Ort gefahren war. Also wurde ein zweiter Wagen losgeschickt. Problem: Die Ambulanz-Einsätze werden zentral von Lyon aus gesteuert. Das bedeutet, sie geben die Infos an Orte nahe des Unfalles weiter, haben aber keine Ahnung von der Umgebung. Das nächste Krankenhaus lag in Aubenas rund anderthalb Stunden entfernt. Wenn dir auf dem französischen Land etwas passiert, dann Gnade dir Gott.

Zurück zuhause, nachts, genehmigten wir uns auf den Schreck einen Schluck Wein. Chloé würde in solchen Situationen ganz ruhig und klar werden. Die anderen hätten zu sehr auf die Gastgeberin eingeredet. Die erste Hilfe bestand im übrigen aus: stabiler Seitenlage, Blut aus dem Mund entfernen, mit Alu-Decke zudecken, beruhigen, mit demjenigen sprechen. Ich konnte lediglich das Rad aus dem verhakten Beinen ziehen und beiseite stellen. Von der stabilen Seitenlage wusste ich nur noch die Hälfte. Er röchelte, als ich mir zu Beginn ein Bild machte. Chloé meinte, es sei ein natürlicher Reflex zu helfen. Wenn man allein gewesen wäre, hätte man automatisch das Richtige getan.

Fazit: Erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt. So aufregend endete meine Reise durch die Provinz. Zum Abschied auf der Treppe in der Sonne ein Morgenkaffee mit Chloé – der Zufall und zwei gute Entscheidungen hatten uns glücklicherweise zusammengebracht – und dann ab in die große Stadt und zu Jana.

Etappe 8 – Montélimar II

17. bis 20. Juli 2017, Montélimar, bei Catherine

Das Angebot erleichtert annehmend weilte ich ein zweites Mal bei Catherine. Ich fand keinen anderen Couchsurfer. Ob es nun an mir lag oder an den Umständen von Sommer, Ferien und Theaterfestival, mochte ich nicht entscheiden. Jedenfalls war es eine freudige Fügung.

Da Catherine unterwegs war, holte ich mir den Hausschlüssel bei ihrer Mutter ab, die um die Ecke wohnte. Ich brachte Törtchen vom Patisseur mit. Madame F. stammte aus dem Savoyen, einer Berglandschaft nahe der italienischen Grenze. Als sie Kind war, war der Dialekt selbstverständliche Verkehrssprache. Sie sprach von patois. Nach meiner Recherche müsste es ein Dialekt aus dem Provenzalischen, auch Arpitanisch genannt, gewesen sein. Jedes Dorf hatte seine eigenen Mundart-Wörter, die auch nur die Dorfbewohner verstanden. Sie erinnerte sich an zwei Worte: pomme de terre – tifère (dt.: Kartoffel), mais – troqui (dt. Mais). Es solle ein wenig dem Deutschen geähnelt haben, wohl aber auch unter Einfluss der italienischen Sprache gestanden haben. Ihre Eltern stammten aus dem Ort Le Châtel und hätten erst mit sechs Jahren französisch in der Schule gelernt. Vorher sprach man nur Dialekt, etwa um 1910. Heute spreche es keiner mehr. Der Dialekt gehe verloren. Madame F. besitzt noch eine Kassette, auf der die Menschen ihres Dorfes zu hören sind, patois sprechend. Es wärme ihr das Herz, wenn sie sie hört. Nebenbei muss ich bemerken, dass die über 80-jährige Dame recht modern war. Sie ließ sich von ihren Kindern und Enkeln die Benutzung von Smartphone und Tablet erklären und ging damit um. Ganz zufrieden war sie nicht, aber es gebe ihr eine gewisse Sicherheit, immer ihr Mobiltelefon dabeizuhaben. Schwer krank genieße die Zeit, die ihr bleibt, hat einen vollen Terminkalender, unter anderem mit regelmäßigen Tarot-Spiel und Karate-Unterricht (sic!). Außerdem hatte sie im Rentenalter eine Entscheidung getroffen, wie sie wohl nicht viele ihrer Generation getroffen hätten.

Ein langsamer Tag ohne Ziel. Viel mit Catherine unterhalten. Beim Salat-Zubereiten Amy Winehouse gehört. Fröhlich. Catherine regte sich wieder über Macron und seine Scheinheiligkeit auf. Ein Dauerbrenner. Seine Machtdemonstration gegenüber dem ranghöchsten General, der daraufhin zurücktrat. Er sei clever wie boshaft. Für Konzerne und Pharmaindustrie mache er Gesetze. Sonst ändere er wenig: Es gab 70 Anträge auf Gesetzesänderungen, wovon er bisher keinen einzigen umgesetzt habe. Aus ihrer Psychotherapie-Praxis: Sie vergegenwärtigte mir Freuds Theorie über Eltern und Kinder, die ich mit Interesse und etwas mulmigen Gefühl zur Kenntnis nahm. Sehr persönliche Dinge von sich als junger Frau und auch ihrem Sohn Paul erzählt. Sie erinnerte sich, mit welcher Enttäuschung sie auf ihr zweites gerade geborenes Kind schaute. Er wog schon vier Kilo wie ein zwei-monatiges Baby. Sie hatte das Gefühl, man habe ihr die zwei ersten Monate mit ihrem Säugling genommen. Ihr Mann wollte lieber ein zweites Mädchen. Laut ihr wollten Kinder stets ihre Eltern beschützen und ihnen Gutes tun. Kinder fühlten sich oft verantwortlich, wenn die Eltern böse oder verärgert sind oder sich streiten.

Schon bei meinem ersten Besuch sprach Catherine begeistert vom Theater-Festival in Avignon. Sie sehe sich jedes Jahr mehrere Stücke an. Grundlage für die Auswahl ist das offizielle Programmheft dick wie ein Telefonbuch (ältere unter den Lesern werden sich erinnern). Wahrlich eine Qual, doch sie solle sich lohnen. So kam ich nun zum Zeitpunkt ihres zweiten Tagesausflugs – und ich fuhr mit. Wir sahen uns gemeinsam ein Stück mit dem Namen A an. A stand für Anticipation, was Vorwegnahme bedeutet. Eine Komödie über die Schwierigkeit, zur Liebe zu finden. Die männliche Hauptfigur lebte im Jetzt und hatte keinen blassen Schimmer, was wohl am nächsten in allen möglichen Situationen und in seinem Leben allgemein passieren wird. Die Protagonistin lebte dagegen ständig in der Zukunft. Sie malte sich in jedem Moment aus, wie es gleich weiter gehen würde. Plante, nahm vorweg, und dabei auf hohem Stresslevel. Beide pathologischen Züge hatten natürlich was mit den Eltern und deren Beziehung zu ihren Kindern zu tun. Schließlich fanden die beiden doch zueinander, weil sie sich gegenseitig etwas vom anderen annahmen.

Gut unterhalten machte ich mich danach auf eine Tour durch die Stadt. Catherine sah sich derweil noch drei weitere Stücke an. Auf den Straßen trafen sich unzählige Besucher und werbende Theaterleute, die in ihnen potentielle Theaterzuschauer sahen. So bekam man alle fünf Minuten einen Flyer in die Hand gedrückt, mit einer kurzen Erklärung, warum man in welches Stück gehen müsse. Diese teilweise sehr fantasievoll verkleideten lebenden Werbeanzeigen waren meist selbst Schauspieler für das gerade beworbene Stück. Denn es herrschte eine wahnsinnige Konkurrenz. In rund hundert Spielstätten liefen von morgens bis abends stündlich Schauspiele aller Art, vier Wochen lang. Jeder freie Fleck an Häuserwänden, Zäunen, Stromkästen war mit Plakaten zugehängt.

Dort wo die engen Straßen etwas breiter wurden oder ein kleiner Platz sich öffnete, spielten Straßenmusiker. In dieser vibrierenden Atmosphäre musste man nur schauen, das allein war Theater. Fahrradfahrer, ja, Menschen auf Rädern fielen auf und relativ viele Elektroautos. Hier schien Frankreich doch etwas fortschrittlicher als in den Kleinstädten, die ich bisher gesehen hatte. Trotzdem sind wie im übrigen Frankreich Dosengetränke noch an der Tagesordnung.

 

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Den Papstpalast umrundete ich lediglich, das musste reichen. Einen nicht unerheblichen Teil seiner Stadtgeschichte, im 14. Jahrhundert, war Avignon Sitz des Oberhaupts der katholischen Kirche gewesen. Leider wurde ich wieder einmal auf meine vorschnellen, gemeinen Urteile zurückgeworfen. Denn während ich so herumbummelte und -lungerte, aß ich mindestens drei Eis. In Saint-Malo bei meinem Urlaub letzten Sommer schüttelte ich noch verächtlich den Kopf über all die dämlichen Eis und sonst was fressenden Touristen. Ähm, Hochmut kommt vor dem Fall. Mist. Schnell noch einen Wein gegen die (eigene) Schlechtigkeit und Schwäche, um zum krönenden Abschluss wieder gemeinsam mit Catherine ein Konzert zu hören. Sie war absoluter Fan von Lalala Napoli. Französisch-neapolitanische Kombo, dessen Sänger alte Weisen aus der italienischen Stadt modernisierte, verrockte. Einem brandete Energie sechs starker männlicher Musiker entgegen. Zwei Akkordeons, Gitarre, Kontrabass, Schlagzeug, Violine. Hässlich waren sie auch nicht. Insgesamt schönes Erlebnis.

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Bei unserem letzten Mittagessen ging es nochmals um Kinderpsychologie. Das Einschlafen sei eine Art Trennung von der Mutter sowie eine Art Tod oder Nicht-Bewusstsein. Das macht Angst. Um diese Angst zu überwinden, haben die meisten Kinder ein Lieblingskuscheltier, das ein Stück der Mutter und/oder des Vaters repräsentiere. Die Mutter ist physisch nicht da, aber das Kind lerne, dass sie in seinen Gedanken existiere. Vertrauen, Loslösen, Selbstständigkeit seien Eckpfeiler für eine gesunde Entwicklung. Kinder, die allein sein können (beim Spielen oder Einschlafen), hätten diese Fähigkeiten. Man kann zudem auf der Straße beobachten, dass Franzosen relativ streng mit ihren Kindern sind. Die französischen Kinder sind im Allgemeinen ziemlich brav und ruhig. Artig sitzen sie mit im Café und abends im Restaurant.

Etappe 7 – Grignan

13. bis 17. Juli 2017, Grignan, Gästezimmer

Am Lavendelfeld angekommen. Der Mistral presste mir den herben Duft in alle Poren. Das Violett wogte. Es ratschte und schnarrte und zwitscherte und rauschte und raschelte. Dazu ein tickendes Zirren. Ein Grashüpfer gesellte sich zu mir, machte es sich auf meiner Tasche bequem. Siesta vermutlich. Das Feld war von Steineichen und Pinien umstanden. Am anderen Ende glich das Ensemble von Bäumen und Sträuchern von weitem einem angelegten Garten. Links und rechts des Feldes lagen weitere kleinere Felder. Die Sonne brannte auf den Füßen. Haare wirbelten um den Kopf. Immer wieder brauste dieser dichte Geruch in meine Nase: Kräuter, Meer, Blütensüße, rauer Samt. Ein Hase raste vorbei. Bienen durchwühlten die blauen Halme, um später den Lavendelhonig zu produzieren, denkt der Mensch. Die Zikaden veranstalteten eine Kakophonie, deren Töne nach einer Weile sich zu einem Rhythmus vereinen. Harmonisieren sich zu einem Beat, dem Hitze-Beat. Kirchenglocken schlagen Drei.

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Die Gemäuer des Hauses, in dem ich Unterkunft bezog, stehen seit ungefähr 1500. Das Gästezimmer vibrierte vor Design und Dekor. Es war genauso groß wie meine Berliner Wohnung. Man schaute auf Berge und die Dächer der niedriger gelegenen Nachbarhäuser. Ich breitete die Arme aus und drehte mich und warf mich auf das ausladende Bett. Neben dem Schreibtisch stand noch eine Liege zum Lesen und Entspannen. Ich bin vollkommen in der Dekadenz angekommen. Das ganze Haus wurde renoviert. Drei Keller, einer davon im Frühstückshof freigelegt und durch eine Glasdecke von oben beschaubar, die anderen für den Wein. Véronique, die Dame des Hauses, ist Innenausstatterin, Alain, der Herr des Hauses, berät Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen. Ihr gemeinsames Unternehmen Pension ist ganz frisch, seit Mitte Juni empfangen sie Gäste. Sympathische Menschen, die sich gerne unterhalten.

Weil es hier so schön ist, darf der Kontrast nicht fehlen: Zu neutraler bis schlechter Laune trug relativ schlechter Schlaf bei. Geplagt von Alpträumen (inspiriert vom offengelegten Kellerhof) und von klappernden Fensterläden wegen des böigen Mistrals. Oder lag es an jener hoffentlich witzig gemeinten Bemerkung von Alain, mir die Unterschiede zwischen Hotel, chambre d’hôte und gîte erklärend, die Vorschriften seien für das Betreiben von Gästezimmern relativ lax? Im Gegensatz zu Hotels müsse er nicht die Trinkwasserqualität aus dem Hahn nachweisen – er könne das Wasser auch vergiften, von gesetzlichen Interesse sei das nicht. Haha. Außerdem kam mir zum ersten Mal ein fades Baguette unter. Ist das zu fassen? Eine köstliche, selbstgebackene Spezialität der Nord-Drôme bekam ich, quasi als Entschädigung, zum Frühstück kredenzt: Pogne, eine Art Brioche mit Orangenblütenaroma. In den nicht unumstrittenen Genuss eines anderen regionalen Gebäcks, dem Sacristain, einer Blätterteigstange mit Mandeln, kamen dann Jana und ich in Marseille.

 

 

 

 

 

 

Grignan. Eines der vielen geschichtslastigen, hyperpittoresken Dörfchen. Schloss mit tausendjähriger Geschichte. Die dort einige Jahre lebende und zu Berühmtheit gekommene Madame de Sévigné schrieb hunderte Briefe an ihre (bedauernswerte) Tochter und gab somit der Nachwelt ein Gesellschaftsportrait vom Frankreich
des 17. Jahrhunderts. Orgelkonzert in der Spätgotik- und Renaissance-Stiftskirche.
Den 1500 Einwohnern geht es mehr als gut. Viele Auswärtige haben sich hier ihren Alterssitz gesichert. Pariser machen nun auch Urlaub in der Provence, seit es eine TGV-Verbindung gibt. Zur Auflockerung und Rückkehr wenigstens ins 20. Jahrhundert schauen Bob Marley und Che von den Wänden der Pizzeria „Pizza du Château“.
Dabei wurden ich und die Pizza fast vom Winde verweht. Eines schönen Tages auf der Schlossterrasse stehend gähnten mir recht mickrige oder abgeerntete Lavendelfelder entgegen. Ironie der Geschichte. Man jagt etwas Bestimmtem hinterher … und findet etwas anderes.

 

 

 

 

 

 

Ich fand das Colophon und Chloé. Zu Chloé später. In die Welt des Colophon führte ein gusseisernes Tor. Dahinter ein Garten-Café, von dem aus man die Maschinen der Druck-Werkstatt hörte und auf den Buchladen schaute. Im Gebäude der kleinen Druckerei war ein Museum zur Buchdruckerkunst des 19. Jahrhunderts eingerichtet. Das alles einte der Verein Colophon auf charmante Weise: Autoren, Herstellung von Texten, Mahnung an die Redefreiheit, Bücher für den besonderen Geschmack, Vergangenheit und Gegenwart. Ich halte den Leser nicht mit trockenen Details auf. Nur soviel: Es war gut, zu erfahren oder aufzufrischen, wer oder was Johann Fust, Gutenberg, Garamond und die Linotype waren. Im Zuge der Bedeutung von Druckerpressen fand der Reformlehrer Celestin Freinet Erwähnung. Er führte ein freiere Pädagogik ein. Unter anderem nutzte er im Unterricht Druckerpressen, um die Texte der Schüler zu veröffentlichen. So entstanden erste Schülerzeitungen.

 

 

 

In der temporären Ausstellung klaute ich fotografisch ein paar Zeichnungen und Erste-Seiten der bekannten satirischen und politischen Zeitungen Charlie Hebdo und La Gueule ouverte. Moebius, Wolinski, Reiser, Cabu, Hara Kiri waren vertreten. Für mich und meine Zukunft entdeckte ich ihn schlussendlich selbst: den Sinn des Lebens. Ich möchte etwas mit Büchern machen. Ha! Am besten ich bleibe gleich für ein Praktikum beim Typographen. Ach, so einfach ist das manchmal. Als ich daraufhin zufrieden einen Kaffee im Café trank, traf ich Chloé. Sie erklärte mir zuvor die Arbeitsweise der Werkstatt und wir kamen ins Gespräch, auch über meine erfolglose Couchsurfer-Suche. Sie reichte mir einen kleinen Zettel mit ihrem Namen und ihrer Telefonnummer und bot mir an, bei ihr in der Ardèche zu bleiben. Einfach so.

 

 

 

 

Was gab die Zeitungslektüre her? Die Regionalzeitung La Provence für den Großraum Vaucluse besprach die Feierlichkeiten zum Nationalfeiertag am 14. Juli. Macron hatte Trump nach Paris eingeladen, um ihm das große, starke, kulturell reiche Frankreich zu präsentieren, mit pompösen Militär-Défilé. Zugleich stand die Militär-Parade unter keinem guten Stern, da es zuvor zwischen dem obersten General und Macron zu einem Eklat kam. Der Militär-Chef kritisierte Macron für seine groben Kürzungen des Verteidigungsetats. Daraufhin wies Macron diesen barsch in seine Grenzen und maßregelte ihn, Macron sei sein Chef. Der langjährige und sehr beliebte General zog die Konsequenz und quittierte den Dienst. Unter solchen Bedingungen könne er den Schutz der Bevölkerung nicht mehr verantworten. Gedenkfeier zum Attentat in Nizza vor einem Jahr, an dem viele Franzosen und Einwohner von Nizza wieder auf die Promenade kamen, um ihre Mitgefühl für Opfer und Angehörige sowie ihren Willen, sich nicht unterkriegen zu lassen, Ausdruck zu verleihen. Außerdem gab es unzählige Brände aufgrund der monatelangen Hitzeperiode. Wieder Berichte und Rezensionen zu diversen Konzerten aus Klassik, Jazz und Rock, Theateraufführungen, Weinfesten.

Und eine nette journalistische Anekdote zum Schluss: Ein Artikel über die Freiwilligenarbeit einiger Jugendlicher bei der Restaurierung eines Amphitheaters am Mont Ventoux erwähnte anerkennend den Bürgermeister des Örtchens. Der Journalist bemerkte, dass der Bürgermeister seine Ansprache voller Gastfreundschaft und erfolgreich (!) auf Englisch hielt, da nicht alle der jungen Teilnehmer die Sprache Molières (!) sprachen. Tja, diese armen Tropfe, bleibt nur zu hoffen, dass ihnen die Sprache des Meisters während des Steineklopfens noch näher gebracht wurde.

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Etappe 6 – Grillon

10. bis 13. Juli 2017, Grillon, bei meiner Couchsurfing-Gastgeberin Magali

Von nun an alles Rolle rückwärts, auf derselben Strecke zurück in den Westen der Provence. Per Anhalter ging es mit einem ungewöhnlichen Pärchen und einem leidlich aggressiven Fahrer, der es für meinen Geschmack etwas zu eilig hatte, nach Nyons. Dort mit Salat und Kaffee Zeit tot geschlagen. Weiter mit dem Bus nach Valréas. Im Zustand völliger Erschöpfung von Hitze und Übermüdung hielt ich die Augen gerade noch offen, bis mich abends Magali abholte. Zuerst ging es zu ihrem Elternhaus, das zum Verkauf steht. – Magalis Vater lebte lange Zeit in Rosans. Er sprach provenzalisches Patois. So verbinden sich die Fragmente langsam. – Sie wässerte den ausgedorrten Garten. Danach wusch sie noch das Auto. Endlich zu ihr, Dusche, Abendessen mit Salat, Melone und Ziegenkäse. Wieder die Herzlichkeit eines Menschen, der einen einlädt, bei sich zu wohnen. Ich solle mich wie zuhause fühlen. Sie bot mir an, die nächste, ziemlich teure Unterkunft zu stornieren und bei ihr zu bleiben. Sie wollte mich zu ihrer Arbeit und zum Markt mitnehmen. Ich könne auch ein Rad fahren, das aber noch repariert werden müsse. Ihr jüngerer Sohn Adam (21 Jahre) lebte für einige Monate bei ihr. Meine Schlafstatt nahm ich auf dem Mezzanine im Küchen- und Wohnraum ein. Mauersegler umflogen abends das Haus. Die Fenster gingen nach Osten und Westen. Ein altes Haus mit hohen Zimmern. Im zweiten Stock ließen die Fenster Sicht auf ein Dächermosaik, den Balkon der Nachbarn und einen großen Baum.

 

 

 

Nach den täglichen Aufgaben Couchsurfing-Suche und Texten erkundete ich einen Nachmittag lang das Dorf. Hier leben nun um die 1700 Menschen. Wir sind übrigens im Departement Vaucluse. Die Gassen sind gesäumt von Häusern aus dem 17. Jahrhundert. Gegründet wurde der Ort im 11. Jahrhundert. Im ältesten Viertel, genannt Vialle, ließ man unter der Leitung eines angesehenen Architekten in den 1980ern die Altstadt restaurieren und einige Häuser zu sozialen Wohnungen umbauen. Und es gibt eine super moderne Bibliothek. Einige sagen, es sei fast unmöglich, eine Zikade zu sehen, andere meinen, sie hätten schon viele erblickt. Jedenfalls gelang es mir, eine zu erspähen und fotografisch festzuhalten. Erhebender Augenblick.

 

 

 

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Mit Magali und Adam nahm ich mal das Frühstück, mal Mittag oder Abendbrot zusammen ein. Die erste Französin auf meiner Reise, die nicht gerne kocht. Darum gebe es einfache Sachen, die nichtsdestotrotz schmeckten. Ihr Sohn kochte im Gegenteil ganz gerne. Nach seiner Hotelausbildung mit Spezialisierung auf Barmann in Marseille machte er seine ersten Berufserfahrungen in Amsterdam, Utrecht und Monaco. Hier in Südfrankreich arbeitete er den Sommer über in einer Fabrik, die Verpackungen aus Plastik herstellt. Er wirkte ziemlich zuversichtlich, lebenslustig, hilfsbereit, dabei trotzdem zurückhaltend. Macht Elektro-Musik, mag aber auch Soul und Jazziges. Und er erklärte gerne (auch die Welt).

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Die Mutter (51 Jahre) arbeitet als Wellness-Therapeutin, Vertreterin für Bio-Pflegeprodukte und als Masseurin im Wellness-Spa. Während eines Speed-Einkaufes im Bioladen und am Käsestand auf dem Markt im Nachbarort unterhielten wir uns über die Gegend. Die Leute würden hier zu wenig reisen, darum seien sie etwas engstirnig, konservativ, kleinkariert. Sie mochte die Menschen in Nyons (wo sie auch gelebt hatte). Sie seien offen, freundlich und immer zu einem Gruß bereit. Man käme leichter ins Gespräch, als etwa in Grillon. Magali hält wenig von Macron (Partei LREM La République en marche, dt.: Die Republik in Bewegung): Er führe das aus, was Wirtschaftskonzerne und Pharmaindustrie verlangten. Zu jener Zeit lief eine Petition gegen die Impfpflicht (elf Impfungen bei Neugeborenen), per Gesetz 2018 in Kraft treten soll. Regierung agiere wie ein Diktator, rigorose Umsetzungen ohne Kompromisse. Dieses autoritäre Regieren ist mehreren meiner Gesprächspartner übel aufgestoßen.

Adam verriet mir den Weg zu einem Flüsschen nahe des Hauses. Dort hätte ich meine Ruhe. Also ab in brütender Hitze zum Geheimort. Ein Flussbett aus rundgeschliffenen weißen Steinen. Das Wasser floss spärlich in einem Rinnsal und sammelte sich in wenigen Kuhlen, dank eines Dammes aus Baumstämmen, die Adam mit seinen Freunden gebaut hatte. Man konnte sich immerhin hineinlegen. Die Ufer waren von dichtem Grün und hohen Bäumen bestanden. Es rauschte, schnarrte und summte. Konzert aus Zikaden, Bienen und Vogelstimmen. Die Steine drückten durchs Handtuch. Die Vegetation legte ihren Schatten schützend über mich. So lag ich, mit Blick auf diesen lauten, stillen Ort. Die Zeit blieb stehen. Ich schloss die Augen und hörte die Stille musizieren. Umschlossen von Sommer. Leichtigkeit. Unendlich viel Raum und Zeit ohne Zweck. Manchmal legte ich mich in eine der Naturbadewannen, um mich abzukühlen, gemeinsam mit Libellen, Wasserläufern und schwarzen Schmetterlingen. Die Szenerie – ja, doch, ein weiteres Mal – wie in einem (anderen) französischen Film.