Etappe 7 – Grignan

13. bis 17. Juli 2017, Grignan, Gästezimmer

Am Lavendelfeld angekommen. Der Mistral presste mir den herben Duft in alle Poren. Das Violett wogte. Es ratschte und schnarrte und zwitscherte und rauschte und raschelte. Dazu ein tickendes Zirren. Ein Grashüpfer gesellte sich zu mir, machte es sich auf meiner Tasche bequem. Siesta vermutlich. Das Feld war von Steineichen und Pinien umstanden. Am anderen Ende glich das Ensemble von Bäumen und Sträuchern von weitem einem angelegten Garten. Links und rechts des Feldes lagen weitere kleinere Felder. Die Sonne brannte auf den Füßen. Haare wirbelten um den Kopf. Immer wieder brauste dieser dichte Geruch in meine Nase: Kräuter, Meer, Blütensüße, rauer Samt. Ein Hase raste vorbei. Bienen durchwühlten die blauen Halme, um später den Lavendelhonig zu produzieren, denkt der Mensch. Die Zikaden veranstalteten eine Kakophonie, deren Töne nach einer Weile sich zu einem Rhythmus vereinen. Harmonisieren sich zu einem Beat, dem Hitze-Beat. Kirchenglocken schlagen Drei.

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Die Gemäuer des Hauses, in dem ich Unterkunft bezog, stehen seit ungefähr 1500. Das Gästezimmer vibrierte vor Design und Dekor. Es war genauso groß wie meine Berliner Wohnung. Man schaute auf Berge und die Dächer der niedriger gelegenen Nachbarhäuser. Ich breitete die Arme aus und drehte mich und warf mich auf das ausladende Bett. Neben dem Schreibtisch stand noch eine Liege zum Lesen und Entspannen. Ich bin vollkommen in der Dekadenz angekommen. Das ganze Haus wurde renoviert. Drei Keller, einer davon im Frühstückshof freigelegt und durch eine Glasdecke von oben beschaubar, die anderen für den Wein. Véronique, die Dame des Hauses, ist Innenausstatterin, Alain, der Herr des Hauses, berät Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen. Ihr gemeinsames Unternehmen Pension ist ganz frisch, seit Mitte Juni empfangen sie Gäste. Sympathische Menschen, die sich gerne unterhalten.

Weil es hier so schön ist, darf der Kontrast nicht fehlen: Zu neutraler bis schlechter Laune trug relativ schlechter Schlaf bei. Geplagt von Alpträumen (inspiriert vom offengelegten Kellerhof) und von klappernden Fensterläden wegen des böigen Mistrals. Oder lag es an jener hoffentlich witzig gemeinten Bemerkung von Alain, mir die Unterschiede zwischen Hotel, chambre d’hôte und gîte erklärend, die Vorschriften seien für das Betreiben von Gästezimmern relativ lax? Im Gegensatz zu Hotels müsse er nicht die Trinkwasserqualität aus dem Hahn nachweisen – er könne das Wasser auch vergiften, von gesetzlichen Interesse sei das nicht. Haha. Außerdem kam mir zum ersten Mal ein fades Baguette unter. Ist das zu fassen? Eine köstliche, selbstgebackene Spezialität der Nord-Drôme bekam ich, quasi als Entschädigung, zum Frühstück kredenzt: Pogne, eine Art Brioche mit Orangenblütenaroma. In den nicht unumstrittenen Genuss eines anderen regionalen Gebäcks, dem Sacristain, einer Blätterteigstange mit Mandeln, kamen dann Jana und ich in Marseille.

 

 

 

 

 

 

Grignan. Eines der vielen geschichtslastigen, hyperpittoresken Dörfchen. Schloss mit tausendjähriger Geschichte. Die dort einige Jahre lebende und zu Berühmtheit gekommene Madame de Sévigné schrieb hunderte Briefe an ihre (bedauernswerte) Tochter und gab somit der Nachwelt ein Gesellschaftsportrait vom Frankreich
des 17. Jahrhunderts. Orgelkonzert in der Spätgotik- und Renaissance-Stiftskirche.
Den 1500 Einwohnern geht es mehr als gut. Viele Auswärtige haben sich hier ihren Alterssitz gesichert. Pariser machen nun auch Urlaub in der Provence, seit es eine TGV-Verbindung gibt. Zur Auflockerung und Rückkehr wenigstens ins 20. Jahrhundert schauen Bob Marley und Che von den Wänden der Pizzeria „Pizza du Château“.
Dabei wurden ich und die Pizza fast vom Winde verweht. Eines schönen Tages auf der Schlossterrasse stehend gähnten mir recht mickrige oder abgeerntete Lavendelfelder entgegen. Ironie der Geschichte. Man jagt etwas Bestimmtem hinterher … und findet etwas anderes.

 

 

 

 

 

 

Ich fand das Colophon und Chloé. Zu Chloé später. In die Welt des Colophon führte ein gusseisernes Tor. Dahinter ein Garten-Café, von dem aus man die Maschinen der Druck-Werkstatt hörte und auf den Buchladen schaute. Im Gebäude der kleinen Druckerei war ein Museum zur Buchdruckerkunst des 19. Jahrhunderts eingerichtet. Das alles einte der Verein Colophon auf charmante Weise: Autoren, Herstellung von Texten, Mahnung an die Redefreiheit, Bücher für den besonderen Geschmack, Vergangenheit und Gegenwart. Ich halte den Leser nicht mit trockenen Details auf. Nur soviel: Es war gut, zu erfahren oder aufzufrischen, wer oder was Johann Fust, Gutenberg, Garamond und die Linotype waren. Im Zuge der Bedeutung von Druckerpressen fand der Reformlehrer Celestin Freinet Erwähnung. Er führte ein freiere Pädagogik ein. Unter anderem nutzte er im Unterricht Druckerpressen, um die Texte der Schüler zu veröffentlichen. So entstanden erste Schülerzeitungen.

 

 

 

In der temporären Ausstellung klaute ich fotografisch ein paar Zeichnungen und Erste-Seiten der bekannten satirischen und politischen Zeitungen Charlie Hebdo und La Gueule ouverte. Moebius, Wolinski, Reiser, Cabu, Hara Kiri waren vertreten. Für mich und meine Zukunft entdeckte ich ihn schlussendlich selbst: den Sinn des Lebens. Ich möchte etwas mit Büchern machen. Ha! Am besten ich bleibe gleich für ein Praktikum beim Typographen. Ach, so einfach ist das manchmal. Als ich daraufhin zufrieden einen Kaffee im Café trank, traf ich Chloé. Sie erklärte mir zuvor die Arbeitsweise der Werkstatt und wir kamen ins Gespräch, auch über meine erfolglose Couchsurfer-Suche. Sie reichte mir einen kleinen Zettel mit ihrem Namen und ihrer Telefonnummer und bot mir an, bei ihr in der Ardèche zu bleiben. Einfach so.

 

 

 

 

Was gab die Zeitungslektüre her? Die Regionalzeitung La Provence für den Großraum Vaucluse besprach die Feierlichkeiten zum Nationalfeiertag am 14. Juli. Macron hatte Trump nach Paris eingeladen, um ihm das große, starke, kulturell reiche Frankreich zu präsentieren, mit pompösen Militär-Défilé. Zugleich stand die Militär-Parade unter keinem guten Stern, da es zuvor zwischen dem obersten General und Macron zu einem Eklat kam. Der Militär-Chef kritisierte Macron für seine groben Kürzungen des Verteidigungsetats. Daraufhin wies Macron diesen barsch in seine Grenzen und maßregelte ihn, Macron sei sein Chef. Der langjährige und sehr beliebte General zog die Konsequenz und quittierte den Dienst. Unter solchen Bedingungen könne er den Schutz der Bevölkerung nicht mehr verantworten. Gedenkfeier zum Attentat in Nizza vor einem Jahr, an dem viele Franzosen und Einwohner von Nizza wieder auf die Promenade kamen, um ihre Mitgefühl für Opfer und Angehörige sowie ihren Willen, sich nicht unterkriegen zu lassen, Ausdruck zu verleihen. Außerdem gab es unzählige Brände aufgrund der monatelangen Hitzeperiode. Wieder Berichte und Rezensionen zu diversen Konzerten aus Klassik, Jazz und Rock, Theateraufführungen, Weinfesten.

Und eine nette journalistische Anekdote zum Schluss: Ein Artikel über die Freiwilligenarbeit einiger Jugendlicher bei der Restaurierung eines Amphitheaters am Mont Ventoux erwähnte anerkennend den Bürgermeister des Örtchens. Der Journalist bemerkte, dass der Bürgermeister seine Ansprache voller Gastfreundschaft und erfolgreich (!) auf Englisch hielt, da nicht alle der jungen Teilnehmer die Sprache Molières (!) sprachen. Tja, diese armen Tropfe, bleibt nur zu hoffen, dass ihnen die Sprache des Meisters während des Steineklopfens noch näher gebracht wurde.

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