Etappe 8 – Montélimar II

17. bis 20. Juli 2017, Montélimar, bei Catherine

Das Angebot erleichtert annehmend weilte ich ein zweites Mal bei Catherine. Ich fand keinen anderen Couchsurfer. Ob es nun an mir lag oder an den Umständen von Sommer, Ferien und Theaterfestival, mochte ich nicht entscheiden. Jedenfalls war es eine freudige Fügung.

Da Catherine unterwegs war, holte ich mir den Hausschlüssel bei ihrer Mutter ab, die um die Ecke wohnte. Ich brachte Törtchen vom Patisseur mit. Madame F. stammte aus dem Savoyen, einer Berglandschaft nahe der italienischen Grenze. Als sie Kind war, war der Dialekt selbstverständliche Verkehrssprache. Sie sprach von patois. Nach meiner Recherche müsste es ein Dialekt aus dem Provenzalischen, auch Arpitanisch genannt, gewesen sein. Jedes Dorf hatte seine eigenen Mundart-Wörter, die auch nur die Dorfbewohner verstanden. Sie erinnerte sich an zwei Worte: pomme de terre – tifère (dt.: Kartoffel), mais – troqui (dt. Mais). Es solle ein wenig dem Deutschen geähnelt haben, wohl aber auch unter Einfluss der italienischen Sprache gestanden haben. Ihre Eltern stammten aus dem Ort Le Châtel und hätten erst mit sechs Jahren französisch in der Schule gelernt. Vorher sprach man nur Dialekt, etwa um 1910. Heute spreche es keiner mehr. Der Dialekt gehe verloren. Madame F. besitzt noch eine Kassette, auf der die Menschen ihres Dorfes zu hören sind, patois sprechend. Es wärme ihr das Herz, wenn sie sie hört. Nebenbei muss ich bemerken, dass die über 80-jährige Dame recht modern war. Sie ließ sich von ihren Kindern und Enkeln die Benutzung von Smartphone und Tablet erklären und ging damit um. Ganz zufrieden war sie nicht, aber es gebe ihr eine gewisse Sicherheit, immer ihr Mobiltelefon dabeizuhaben. Schwer krank genieße die Zeit, die ihr bleibt, hat einen vollen Terminkalender, unter anderem mit regelmäßigen Tarot-Spiel und Karate-Unterricht (sic!). Außerdem hatte sie im Rentenalter eine Entscheidung getroffen, wie sie wohl nicht viele ihrer Generation getroffen hätten.

Ein langsamer Tag ohne Ziel. Viel mit Catherine unterhalten. Beim Salat-Zubereiten Amy Winehouse gehört. Fröhlich. Catherine regte sich wieder über Macron und seine Scheinheiligkeit auf. Ein Dauerbrenner. Seine Machtdemonstration gegenüber dem ranghöchsten General, der daraufhin zurücktrat. Er sei clever wie boshaft. Für Konzerne und Pharmaindustrie mache er Gesetze. Sonst ändere er wenig: Es gab 70 Anträge auf Gesetzesänderungen, wovon er bisher keinen einzigen umgesetzt habe. Aus ihrer Psychotherapie-Praxis: Sie vergegenwärtigte mir Freuds Theorie über Eltern und Kinder, die ich mit Interesse und etwas mulmigen Gefühl zur Kenntnis nahm. Sehr persönliche Dinge von sich als junger Frau und auch ihrem Sohn Paul erzählt. Sie erinnerte sich, mit welcher Enttäuschung sie auf ihr zweites gerade geborenes Kind schaute. Er wog schon vier Kilo wie ein zwei-monatiges Baby. Sie hatte das Gefühl, man habe ihr die zwei ersten Monate mit ihrem Säugling genommen. Ihr Mann wollte lieber ein zweites Mädchen. Laut ihr wollten Kinder stets ihre Eltern beschützen und ihnen Gutes tun. Kinder fühlten sich oft verantwortlich, wenn die Eltern böse oder verärgert sind oder sich streiten.

Schon bei meinem ersten Besuch sprach Catherine begeistert vom Theater-Festival in Avignon. Sie sehe sich jedes Jahr mehrere Stücke an. Grundlage für die Auswahl ist das offizielle Programmheft dick wie ein Telefonbuch (ältere unter den Lesern werden sich erinnern). Wahrlich eine Qual, doch sie solle sich lohnen. So kam ich nun zum Zeitpunkt ihres zweiten Tagesausflugs – und ich fuhr mit. Wir sahen uns gemeinsam ein Stück mit dem Namen A an. A stand für Anticipation, was Vorwegnahme bedeutet. Eine Komödie über die Schwierigkeit, zur Liebe zu finden. Die männliche Hauptfigur lebte im Jetzt und hatte keinen blassen Schimmer, was wohl am nächsten in allen möglichen Situationen und in seinem Leben allgemein passieren wird. Die Protagonistin lebte dagegen ständig in der Zukunft. Sie malte sich in jedem Moment aus, wie es gleich weiter gehen würde. Plante, nahm vorweg, und dabei auf hohem Stresslevel. Beide pathologischen Züge hatten natürlich was mit den Eltern und deren Beziehung zu ihren Kindern zu tun. Schließlich fanden die beiden doch zueinander, weil sie sich gegenseitig etwas vom anderen annahmen.

Gut unterhalten machte ich mich danach auf eine Tour durch die Stadt. Catherine sah sich derweil noch drei weitere Stücke an. Auf den Straßen trafen sich unzählige Besucher und werbende Theaterleute, die in ihnen potentielle Theaterzuschauer sahen. So bekam man alle fünf Minuten einen Flyer in die Hand gedrückt, mit einer kurzen Erklärung, warum man in welches Stück gehen müsse. Diese teilweise sehr fantasievoll verkleideten lebenden Werbeanzeigen waren meist selbst Schauspieler für das gerade beworbene Stück. Denn es herrschte eine wahnsinnige Konkurrenz. In rund hundert Spielstätten liefen von morgens bis abends stündlich Schauspiele aller Art, vier Wochen lang. Jeder freie Fleck an Häuserwänden, Zäunen, Stromkästen war mit Plakaten zugehängt.

Dort wo die engen Straßen etwas breiter wurden oder ein kleiner Platz sich öffnete, spielten Straßenmusiker. In dieser vibrierenden Atmosphäre musste man nur schauen, das allein war Theater. Fahrradfahrer, ja, Menschen auf Rädern fielen auf und relativ viele Elektroautos. Hier schien Frankreich doch etwas fortschrittlicher als in den Kleinstädten, die ich bisher gesehen hatte. Trotzdem sind wie im übrigen Frankreich Dosengetränke noch an der Tagesordnung.

 

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Den Papstpalast umrundete ich lediglich, das musste reichen. Einen nicht unerheblichen Teil seiner Stadtgeschichte, im 14. Jahrhundert, war Avignon Sitz des Oberhaupts der katholischen Kirche gewesen. Leider wurde ich wieder einmal auf meine vorschnellen, gemeinen Urteile zurückgeworfen. Denn während ich so herumbummelte und -lungerte, aß ich mindestens drei Eis. In Saint-Malo bei meinem Urlaub letzten Sommer schüttelte ich noch verächtlich den Kopf über all die dämlichen Eis und sonst was fressenden Touristen. Ähm, Hochmut kommt vor dem Fall. Mist. Schnell noch einen Wein gegen die (eigene) Schlechtigkeit und Schwäche, um zum krönenden Abschluss wieder gemeinsam mit Catherine ein Konzert zu hören. Sie war absoluter Fan von Lalala Napoli. Französisch-neapolitanische Kombo, dessen Sänger alte Weisen aus der italienischen Stadt modernisierte, verrockte. Einem brandete Energie sechs starker männlicher Musiker entgegen. Zwei Akkordeons, Gitarre, Kontrabass, Schlagzeug, Violine. Hässlich waren sie auch nicht. Insgesamt schönes Erlebnis.

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Bei unserem letzten Mittagessen ging es nochmals um Kinderpsychologie. Das Einschlafen sei eine Art Trennung von der Mutter sowie eine Art Tod oder Nicht-Bewusstsein. Das macht Angst. Um diese Angst zu überwinden, haben die meisten Kinder ein Lieblingskuscheltier, das ein Stück der Mutter und/oder des Vaters repräsentiere. Die Mutter ist physisch nicht da, aber das Kind lerne, dass sie in seinen Gedanken existiere. Vertrauen, Loslösen, Selbstständigkeit seien Eckpfeiler für eine gesunde Entwicklung. Kinder, die allein sein können (beim Spielen oder Einschlafen), hätten diese Fähigkeiten. Man kann zudem auf der Straße beobachten, dass Franzosen relativ streng mit ihren Kindern sind. Die französischen Kinder sind im Allgemeinen ziemlich brav und ruhig. Artig sitzen sie mit im Café und abends im Restaurant.

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