27. bis 29. Juni 2017, Flug nach Marseille, Bus nach Salon-de-Provence, Domizil im Dorf Vernègues bei meinen ersten Couchsurfing-Gastgebern Oliver und Isabelle
Dem kühlen Berliner Sommer entronnen finde ich mich innerhalb weniger Stunden in die Hitze des Südens versetzt wieder. Während der Busfahrt vom Marseiller Flughafen in nördlicher Richtung nach Salon-de-Provence zieht an mir die vertraute und geliebte heitere Landschaft vorbei, mit Sträuchern und niedrigen Bäumen, locker beieinander stehend. Hitze, Hügel, Kalkstein, Kreisverkehre. Rot-braune Ziegel, Olivenbäume, erste kleine Weinrebenfelder. Lavendel zur Zierde, Platanen, helle Steine, Wind. Die allgemeingültige Vorstellung von Südfrankreich, der Provence.
Oliver, mein Gastgeber, holte mich aus Salon mit dem Auto ab. Diesmal wollte ich mehr in das Leben dieser Region eintauchen. Darum die Suche nach Einheimischen über die Internet-Plattform Couchsurfing. Bevor mir Oliver sein OK gab, hatte ich so einige Leute angeschrieben. Im Sommer zur besten Urlaubszeit ist es eben nicht leicht. Man schreibt jemanden an, den man sympathisch, interessant, vertrauenswürdig findet. Oliver schien das zu sein, ein besonderer Anreiz war aber sein Musikerdasein. Und dass er sich mit Charles Aznavour hat fotografieren lassen. Dass die Person auf dem Bild allerdings die Wachsfigur des berühmten Chansoniers war, sollte ich erst später erfahren.
Wir fuhren in das Dorf Vernègues, zehn Kilometer abseits der Stadt gelegen. Bei Spaziergängen in den nächsten zwei Tagen breiteten sich ländliches Leben und Landschaft vor mir aus. Das unheimlich laute Schnarren einer Zikade begrüßte mich. Es ist ein seltsames Geräusch, das mich, ob in der Stadt oder auf dem Land, unablässig begleiten wird. Es scheint, als würden sich an steinigen Wegesrändern und auf den Feldern winzige alte Waschbrettspieler geräuschvoll verstecken. Weiße kleine Schnecken im Lavendel und in anderen Sträuchern, Ernte eines Weizenfeldes vor dem Gewitter. Käfer mit Bienenstreifen, Katzen, Katzen, Katzen. Les chats s’allongent sur les rues et les murs, ses canapés de pierre. (Auf Deutsch etwa: Die Katzen strecken sich auf Straßen und Mauern aus, ihren Sofas aus Stein.) Krähende Hähne und kleine Hunde, die Grundstücke tapfer bewachen, Maschinengeräusche von Handwerksarbeiten, eine Chorprobe mit Akkordeon, schwere Melodie, vom Wind hinausgetragen.

Während der Fahrt erfahre ich, dass Oliver Mitte 40 und Deutscher ist, der seit zwanzig Jahren in Frankreich lebt. In einer ganz ruhigen Art erzählt er von seiner Arbeit als Musiker und Musiklehrer. Ich mühe mich mit meinem eingerosteten Französisch ab. Das Verstehen macht weniger Probleme, als die richtigen Worte sprechend in die korrekte Reihenfolge zu bringen. Als er zu dem Part seiner Herkunft kommt, plädiere ich fürs Deutsche. Denn unter diesen Umständen war es für mich zu seltsam, sich in einer anderen Sprache zu unterhalten. Als er ins Deutsche wechselte, blieb ein leichter französischer Akzent. Ich musste mich zurückhalten, nach jeder Kurve ständig auszurufen, wie schön das hier alles ist. Zuhause angekommen, begrüßte mich seine Freundin Isabelle, eine waschechte Pariserin, und es ging zurück ins Französische. Ich durfte im Zimmer eines der Kinder schlafen, statt auf der Couch in einem richtigen Bett. Ein einstöckiges, gemütlich eingerichtetes Haus mit einer großen Terrasse zum Garten hinaus. Beide haben zusammen fünf Kinder aus früheren Partnerschaften. Gerade weilten sie aber bei ihren andern Elternteilen.
Isabelle bereitete ein typisches französisches Essen zu, wie es das wohl oft abends bei ihnen gibt. Zum Aperitif Pineau (aus Traubenmost und Eau de vie vom Cognac hergestellt), Nüsse und Brezeln, einen Salat als Vorspeise, zum Hauptgang Zucchini-Zwiebel-Pilz-Gemüse, Hühnchenfleisch in einer Sesam-Curry-Kümmel-Marinade, etwas Baguette, Rotwein dazu, zum Nachtisch eine Käseplatte, mit vier verschiedenen Sorten, schließlich als Dessert Frischkäse und Erdbeermousse und Melone. Es wurde zwei Stunden gegessen und erzählt, Pausen zwischen den einzelnen Gängen, kleine Portionen. Die erste größere Herausforderung dieser Reise bestand darin, dem Reflex zu widerstehen, alles ausnehmend Köstliche in mich hineinschlingen zu wollen. Ich wäre dann nach einer Viertelstunde schon fertig gewesen.
Bis in die Nacht hinein saß ich mit Oliver bei Rum und Rauch, begleitet von einem heftigen Gewitter mit Blitzen und dem ersten heftigen Regenguss seit zwei Monaten. Wir sprachen über Arbeit, Zeit für eigene Projekte und seine Patchworkfamilie und das Leben zwischen Arbeit, Kindern, Haushalt und Partnerschaft. In den nächsten Tagen begleitete ich Oliver zu seinen Wirkungsstätten und erkundete zwischendurch das Dorf.
Einmal spazierte ich im Sommerregen hinauf zu den Ruinen des alten Vernègues, das 1909 durch ein Erdbeben völlig zerstört wurde. Am Wege standen Disteln, in grausiger Schönheit. Vom Hügel konnte ich nach Südosten auf die Montagne Sainte-Victoire blicken, Lieblingsberg und wiederkehrendes Motiv von Cézanne.

Mein Gastgeber ist also Sänger und Multi-Instrumentalist: Er spielt Gitarre, Klavier, Saxophon, Klarinette, Bass. Darum konnte ich, allein im Haus, auf seinem wunderbar klingenden Kontrabass noch einmal vor meiner langen Spielpause üben. Außerdem arbeitet er als Musiklehrer, Chorleiter, Entertainer und Komponist. Von dieser Mannigfaltigkeit bekam ich einen Einblick beim Abschlusskonzert der örtlichen Musikschule. Der große Saal war brechend voll. So klein der Ort mit seinen 200 Einwohnern ist, so lebendig ist die Gemeinschaft. Kunstgalerie, Musikschule, Chöre, fast wöchentliche Feiern auf dem Platz vor dem Rathaus. An Intrigen und Konflikten mangelt es bei dieser Dichte freilich auch nicht. Als beispielsweise reihenweise Gitarre-Schüler von einer alteingesessenen Lehrerin zu ihm wechselten, und diese Frau dann stellvertretende Direktorin der Musikschule wurde, bekam er schnell Neid und Missgunst zu spüren. Man nahm seinen Schülern unter fadenscheinigen Begründungen einfach Spielzeit auf dem Abschlusskonzert weg.
Auch erzählte er von anfänglichen Schwierigkeiten, als Musiker an Auftritte in Südfrankreich zu kommen. Hatte man ein gutes Konzert gegeben, würde man nicht einfach so weiterempfohlen. Geldscheine müssten eine Empfehlung animieren. Es herrsche ein unangenehmes Geklüngel und eine enorme Konkurrenz. Sehr viele Musiker suchten in der Region nach gut bezahlten Spielgelegenheiten. Im Gegensatz zu seinem schnell aufgebautem Netzwerk in Nordfrankreich, wo er jahrelang lebte und arbeitete, erwies sich hier im Süden der gleiche Prozess als äußerst zäh.
Anderntags fuhr ich mit zur Chorprobe der Manosqu’eens and Manosqu’ings nach Manosque. Während wir Keyboard und sonstiges Equipement in den Garten eines fast schon herrschaftlichen Anwesens schleppten, klangen uns Gesang und Gelächter entgegen. Die lustige Gruppe mit vielen Sängerinnen und einem Sänger ist ziemlich international, aus England, den USA, Frankreich, Spanien, Deutschland und der Schweiz stammen sie. Oliver hielt den fröhlich schnatternden Haufen mit seiner ruhigen, aber bestimmten Führung immer wieder dazu an, zu singen und machte feinfühlig Verbesserungsvorschläge. Er hatte Ausdauer, immer wieder störten schiefe Töne die Harmonie, ließ wiederholen und wiederholen. Ich lauschte angetan, nickte vor Müdigkeit aber fast ein.
Songs wie Ain’t no sunshine und The Saints go marching in klangen nach, während wir in der Dunkelheit über kurvige Bergstraßen endlich zurückfuhren. Um mir noch eine andere Stadt zu zeigen und vor allem weil wir Hunger hatten, machte Oliver einen Umweg nach Aix-en-Provence. Er führte mich zum besten Pizza-Kiosk der Stadt, und wir schlenderten bei Nacht durch die Straßen. Er zeigte mir das ehemalige Wohnhaus, in dem er mit seiner Ex-Freundin lebte. Ihre Amour fou, intensiv, aber völlig ungesund, dauerte quälende Jahre. Beim heimlichen Eindringen ins Haus inspizierten wir den Briefkasten, auf dem immer noch ihre Namen standen. Ich fischte dann einen an sie adressierten Brief vom Finanzamt heraus. Ob oder wie er den Brief später an sie weitergab, erfuhr ich nicht mehr.
So endete mein erster Aufenthalt und war dank Oliver und Isabelle bereits erfüllt von Eindrücken und Geschichten über das Leben im südlichen Frankreich.